Review: MINETTI
Residenztheater München

von Marcel Eckerlein-Konrath
Es ist eine der letzten Regiearbeiten einer echten Legende des deutschsprachigen Theaters, und man spürt in jeder Minute: Hier rechnet jemand ab, hier zieht jemand Bilanz, hier verneigt sich jemand vor der Kunst – ohne dabei sentimental zu werden: Claus Peymanns Inszenierung von Thomas Bernhards Minetti am Münchner Residenztheater
Ein alter Schauspieler sitzt in einer Hotellobby an der Ostsee und wartet. Er wartet auf den Anruf des Schauspieldirektors, der ihm angeblich eine Rolle angeboten hat, noch einmal Shakespeares König Lear zu spielen Er wartet auf seine große Chance, auf sein Comeback. Er wartet und wartet, aber der Anruf kommt nie. Der Direktor erscheint nicht. Es gibt keine Rolle, kein Comeback, keine Erlösung.
Das ist, knapp zusammengefasst, die Handlung von Minetti. Aber bei Thomas Bernhard geht es nie nur um die Handlung. Es geht um das Warten selbst, um die Wiederholungen, um das kreisende Denken eines Menschen, der in seiner eigenen Vergangenheit gefangen ist.
Die Figur ist nach einer realen Person benannt: Bernhard Minetti war tatsächlich ein bedeutender deutscher Schauspieler, der von den 1920er bis in die 1990er Jahre auf der Bühne stand. Thomas Bernhard kannte und schätzte ihn und schrieb das Stück 1976 für ihn. Minetti hatte eine beeindruckende Karriere, spielte unter den großen Regisseuren seiner Zeit – und erlebte doch auch die Phasen der Vergessens, des Übergangen-Werdens, des Wartens auf Angebote, die ausblieben.
Diese Parallele zwischen der realen und der fiktiven Figur durchzieht Peymanns Inszenierung wie ein roter Faden. Es geht um die Grausamkeit des Theaterbetriebs, der seine Künstler verschleißt und dann beiseite legt. Es geht um die Würde des alternden Schauspielers, der trotz allem an seiner Kunst festhält.
Achim Freyers Bühnenbild erschafft eine Hotellobby, die zwischen Realität und Alptraum schwebt. Der Raum wirkt zugleich konkret und unwirklich; die gesamte Atmosphäre erzeugt ein Gefühl von Beklemmung.

Die Situation erinnert an Becketts Warten auf Godot: Auch dort warten zwei Menschen auf jemanden, der nie kommt. Aber während Becketts Figuren unter freiem Himmel ausharren, ist Minetti eingeschlossen in dieser alptraumhaften Lobby. Man denkt auch an Sartres Geschlossene Gesellschaft – jenes berühmte Stück, in dem drei Menschen in einem Zimmer gefangen sind und erkennen müssen: Die Hölle, das sind die anderen. Bei Minetti ist es noch schlimmer: Die Hölle ist er selbst, sein eigenes kreisendendes Denken, seine Erinnerungen, seine vergebliche Hoffnung.
Im Zentrum der Inszenierung steht Manfred Zapatka, und er ist schlicht grandios. Bernhards Texte sind berüchtigt für ihre Länge, ihre Wiederholungen, ihre spiralförmige Struktur. Dinklesbühl! Dinkelsbühl! Dinkelsbühl! – immer und immer wieder dieselben Worte, dieselben Gedanken, nur minimal variiert, doch Zapatka lässt sie lebending werden.
Das kann anstrengend sein, ja. Und das soll es auch sein. Denn Minetti ist gefangen in seinem eigenen Gedankenkonstrukt, in seinen Erinnerungen an große Rollen, in seiner Hoffnung auf den einen Anruf. Zapatka macht diese mentale Gefangenschaft körperlich spürbar. Man sieht ihm die Erschöpfung an, die Last des Alters, aber auch die ungebrochene Professionalität des Bühnenprofis, der seinen Text perfekt beherrscht.
Die schiere Menge an Text, die er zu bewältigen hat, ist beeindruckend – es sind im Grunde zwei Stunden Monolog mit nur kurzen Unterbrechungen. Und Zapatka lässt nie nach, verliert nie die Präzision, findet in jeder Wiederholung eine neue Nuance. Das ist große Schauspielkunst, wie man sie heute nur noch selten sieht.
Die Bravos, die er in der besuchten Vorstellung erhielt, waren mehr als verdient – sie waren ein Akt der Gerechtigkeit.

Immer wieder tauchen andere Figuren auf: eine Dame (Barbara Melzl), ein Mädchen (Naffie Janha), der Portier (Mauro Nieswandt), ein Lohndiener (Pujan Sadri), ein hinkender alter Mann (Hans Rittinger), ein altes Ehepaar (Heinz Brenner, Susanne Popp), ein Betrunkener (Oleg Tynkov).
Diese Figuren sind keine ausgearbeiteten Charaktere – sie sind eher Schatten, Stichwortgeber, Geister vielleicht. Sie erscheinen, liefern ein paar Zeilen, verschwinden wieder. Sind sie real? Oder entspringen sie Minettis Phantasie? Peymann lässt die Frage bewusst offen und erzeugt damit eine surreale, traumhafte Atmosphäre.
Besonders eindrucksvoll sind die Szenen mit der Silvestergesellschaft. Plötzlich bricht diese lärmende, festlich gekleidete Gruppe in die Lobby ein – ein grotesker Kontrast zu Minettis einsamer Verzweiflung. Diese Momente haben echte Wucht. Die bürgerliche Normalität, die hier zelebriert wird, wirkt absurd und bedrohlich zugleich. Es sind Bilder, die nachhalten: die Unfähigkeit verschiedener Welten, miteinander zu kommunizieren, die Einsamkeit des Künstlers inmitten des Festes.
Sebastian Sommers Musik und Sounddesign verstärken diese Verfremdungseffekte: Stille wechselt mit plötzlichem Lärm, realistische Geräusche mit abstrakten Klängen.
Claus Peymann war in den 1960er und 70er Jahren der Enfant terrible des deutschen Theaters. Er inszenierte Brecht, Bernhard und Handke – und löste damit überall Debatten aus. Später wurde er zu einer Institution: Intendant in Bochum, Stuttgart, am Wiener Burgtheater, am Berliner Ensemble. Man könnte meinen, der Revolutionär sei zahm geworden, gediegen, etabliert.

Aber diese Inszenierung beweist das Gegenteil. Peymann ist nicht leise geworden. Er mutet dem Publikum zwei Stunden konzentriertes Zuhören zu, zwei Stunden ohne klassische dramatische Spannung, ohne Actionkurven oder überraschende Wendungen. Er verweigert sich der Unterhaltung im simplen Sinn – und gerade darin liegt seine ungebrochene Radikalität.
Die Inszenierung ist eine Verbeugung vor dem Theater und dem Schauspielerberuf, aber keine sentimentale. Sie zeigt die Brutalität des Betriebs, die Einsamkeit des Künstlers, die Vergeblichkeit des Wartens – und dennoch auch die Würde, die in dieser Haltung liegt.
Der Schauspieldirektor ist die wichtigste Figur des Stücks – obwohl er nie erscheint. Er ist die Verkörperung aller Hoffnungen, aller vergeblichen Erwartungen. Er steht für die Institution Theater, die Künstler braucht und fallen lässt, die Karrieren macht und zerstört. Er ist auch der Tod, das Schweigen, die Gleichgültigkeit der Welt.
Dass Peymann, der selbst Jahrzehnte lang als Intendant diese Macht hatte, nun dieses Stück inszenierte, ist kein Zufall. Es ist eine Selbstbefragung, ein kritischer Blick auf das eigene Lebenswerk. Was bleibt von einem Leben im Theater? Was bedeutet Erfolg, wenn am Ende doch alle vergessen werden?
Peymanns Minetti ist kein einfacher Theaterabend. Die vielen Wiederholungen im Text können ermüden, die langen Monologe erfordern Geduld und Konzentration. Hier entwickeln sich keine lebendigen Dialoge, keine komplexen Beziehungen zwischen Figuren. Stattdessen taucht man ein in das Bewusstsein eines Menschen, der nicht loslassen kann, der gefangen ist in seiner eigenen Vergangenheit.
Aber genau darin liegt die Stärke der Inszenierung. Sie zwingt uns, innezuhalten, zuzuhören, auszuharren. Sie macht uns zu Zeugen – und zu Komplizen – von Minettis Warten. Die atmosphärische Dichte, die Peymann und sein Team erzeugen, ist außergewöhnlich. Man verlässt das Theater nicht gut unterhalten, sondern nachdenklich, vielleicht sogar bedrückt. Aber man ist auch tief beeindruckt von dem, was Theater sein kann: ein Raum für existenzielle Fragen, für menschliche Abgründe, für künstlerische Perfektion.

Wenn Manfred Zapatka am Ende seinen letzten Satz gesprochen hat und seine Maske anzieht, wenn die Bühne sich langsam verdunkelt und Minetti immer noch wartet, dann ist das kein Schlusspunkt, sondern eine Frage, die nachhallt: Worauf warten wir eigentlich? Und was tun wir, solange wir warten?
Die Antwort gibt das Theater selbst: Wir sprechen, wir spielen, wir erschaffen. Und solange wir das tun, sind wir lebendig.
Review: DER FLIEGENDE HOLLÄNDER
Staatstheater Nürnberg

von Marcel Eckerlein-Konrath
Ich gestehe es gleich vorweg: Ich bin kein glühender Wagner-Verehrer. Weder der Mensch Richard Wagner noch sein Mythos liegen mir besonders nahe, und die Trennung zwischen Werk und Person fällt mir schwer. Umso gespannter war ich, wie die Nürnberger Inszenierung mit dieser Ambivalenz umgehen würde.
Das Ergebnis wirkt streckenweise wie ein Fiebertraum – intensiv, schillernd, manchmal verstörend. Die Bühne (Julius Theodor Semmelmann) atmet tropische Schwüle, Daland (Seokjun Kim) ist kein nordischer Seebär, sondern ein Kolonialunternehmer im karibischen Zuckerhandel. Das ist ein kluger Dreh, weil er Wagners unterschwellige Themen – Schuld, Gier, Ausbeutung – in ein greifbares Bild überführt. Die Regie zeigt deutlich: An der Fracht dieses Geisterschiffs klebt Blut. Die Inszenierung von Anika Rutkofsky ist atmosphärisch dicht, manchmal traumartig, manchmal beklemmend, und sie findet einen modernen Zugang zu einem alten Mythos.
Im Zentrum steht Emily Newton als Senta. Sie ist kein graues Mäuschen, sondern eine emanzipierte Frau, die sich selbst befreit. Als Malerin mit Visionen, geplagt von Visionen, erschafft sie ihren Holländer in Form von Bildern und Pinselstrichen, zerstört ihn dann aber letztendlich, sobald sie begreift, dass Erlösung auch Loslassen heißt. Sentas Visionen erinnern an die surrealistischen Künstlerinnen Frida Kahlo oder Leonora Carrington: Frauen, die sich ihre eigene Wirklichkeit schaffen, statt sie zu erleiden und zu erdulden. Newton singt überwältigend und beherrscht selbst in den Momenten des Schweigens die Szene mit einer starken physischen Intensität, die den Abend dominiert.
Jochen Kupfer gibt dem Holländer eine dunkle, wuchtige Präsenz. Er singt mit Kraft, aber auch mit einem Hauch von Müdigkeit, passend für eine Figur, die Jahrhunderte der Schuld mit sich trägt. Die Idee, ihn als eine Art spanischen Kolonialoffizier auftreten zu lassen, funktioniert erstaunlich gut: Der Fluch bekommt historische Tiefe, und das Thema von Schuld und Verantwortung öffnet sich ins Heute. Erik (Christoph Strehl) bleibt dagegen blass, stimmlich wie darstellerisch ohne Kontur, was der Inszenierung unfreiwillig hilft: Senta hat hier keinen ebenbürtigen Partner, nur Männer, die sie einengen.

Die musikalische Leitung von Jan Croonenbroeck und die Staatsphilharmonie Nürnberg verdienen großes Lob. Wagner hat im Fliegenden Holländer Dinge geschrieben, die damals völlig neu waren: Das Meer klingt in den Streichern wie in Bewegung, einzelne Motive verraten, was die Figuren fühlen, und das Orchester selbst erzählt mit: es kommentiert, treibt voran, widerspricht. Die Staatsphilharmonie lässt all das klar und lebendig hören. Man versteht, warum Wagner zum Bezugspunkt für Generationen von Komponisten wurde – von Mahler über Strauss bis hin zu modernen Filmkomponisten wie John Williams, dessen Imperial March aus Star Wars ohne Wagners Motivtechnik undenkbar wäre, oder Howard Shore, dessen Herr-der-Ringe-Partitur ähnliche leitmotivische Verfahren nutzt.
Der Chor (Leitung: Tarmo Vaask) spielt hier eine besondere Rolle. Bei Wagner steht er für das Volk, den Gegenpol zu den großen Einzelnen. In dieser Inszenierung wird er zusätzlich zur Stimme der Unsichtbaren – der Menschen, die auf den Zuckerrohrfeldern schuften, ausgebeutet und namenlos. Das ist ein starker Gedanke: Wagners Musik, die oft nach Größe strebt, bekommt so eine soziale, fast politische Tiefe. Chor und Ensemble wirken geschlossen und bleiben im Gedächtnis, besonders Hans Kittelmann als sadistisch auftrumpfender Steuermann und Almerija Delic als Mary mit kurzer, aber markanter Präsenz.

Und natürlich bleibt die Frage: Wie geht man mit Wagner um, dem Genie und dem Menschen voller Abgründe? Seine antisemitischen Texte, sein Größenwahn, seine Haltung gegenüber Frauen – das alles ist nicht zu trennen vom Namen Wagner. Die Nürnberger Inszenierung versucht es auch gar nicht. Sie beschönigt nichts, sondern stellt sich der Widersprüchlichkeit. Sie zeigt, dass man Wagners Werk kritisch und wach neu lesen kann – ohne ihn zu verehren, aber mit Respekt vor der Kraft seiner Musik.
Wagners Fliegender Holländer ist ein Werk zwischen Romantik und Moderne, zwischen religiöser Erlösung und psychologischem Wahn. Es entstand in einer Zeit, als der junge Wagner sich selbst als verfluchter Künstler sah – getrieben, schuldhaft, auf der Suche nach Sinn.
Gewiss, die Trennung von Werk und Mensch bleibt bei Wagner schwierig. Doch diese Produktion zeigt einen Weg auf, wie man sich dem Werk nähern kann, ohne die Person zu glorifizieren: durch kritische Aneignung, durch Neuinterpretation, durch Ermächtigung der weiblichen Figur. Emily Newtons Senta ist die Antwort auf Wagners Männerwelt – und sie ist grandios.

Review: DIE GROSSE FILMMUSIKGALA DER MUSICALSTARS
Wiener Stadthalle

von Marcel Eckerlein-Konrath
Wien liebt seine Musicalstars – und sie lieben Wien. Das zeigte sich einmal mehr an diesem ausverkauften Samstagabend in der Stadthalle, Halle F. „Die große Filmmusikgala der Musicalstars“ versprach große Melodien und große Stimmen – und hielt genau das. Das Györ Philharmonics Orchestra unter der Leitung von Alex Johansson sorgte für den klanglichen Glanzrahmen, der all den ikonischen Songs von Hollywoods Leinwandträumen die gebührende Größe verlieh.
Gleich zu Beginn setzte die „Circle of Life“-Ouvertüre aus The Lion King den Ton: stimmgewaltig, farbenreich, getragen von allen Sängerinnen und Sängern des Abends. Ein Auftakt, der deutlich machte – hier wird nicht bloß gesungen, hier wird gefeiert.
Was diesen Abend jedoch über das bloße Galaformat hinaushebt, ist die unverkennbare Freundschaft zwischen Mark Seibert und Lukas Perman, den beiden Initiatoren und Gastgebern. Seit ihren gemeinsamen Tagen bei Romeo & Julia im Raimund Theater verbindet sie eine spürbare Vertrautheit. Ihre kleinen Neckereien, ihr Humor und ihr respektvolles Miteinander verleihen der Show jene Leichtigkeit, die perfekt passt.
Ein Höhepunkt des ersten Teils: „Kleiner Freundschaftsdienst“ aus Aladdin. Seibert, Emnes, Sarich und Perman als harmonisches Quartett – charmant, rhythmisch präzise, mit sichtlicher Freude am Spiel. Danach Missy May mit „Lass jetzt los“ aus Frozen – klar, sicher, ohne Kitsch. Gino Emnes überzeugte mit „Go the Distance“ (Hercules) – seine kraftvolle, zugleich warme Stimme trägt den Song mühelos.

Lukas Perman tauchte in „Unter dem Meer“ aus Arielle ein – leichtfüßig, humorvoll, ein Publikumsliebling. Dass „Ein Mensch zu sein“ fehlte, sei verziehen – bei dieser Songfülle müssen irgendwo Kürzungen angesetzt werden.
Und dann Drew Sarich als Ursula mit „Poor Unfortunate Souls“ – ein Ereignis, das man so schnell nicht vergisst. Sarich sprengt in dieser Nummer mühelos alle Gendergrenzen: seine Stimme wechselt von verführerisch-samtig zu bedrohlich-dramatisch, jede Phrase ist präzise gesetzt, jede Silbe auf den Punkt gebracht. Gleichzeitig spielt er mit der Rolle, jongliert mit Gestik, Mimik und Timing, sodass Ursula lebendig, humorvoll und gleichzeitig furchteinflößend wirkt. Sein Spielwitz trifft genau den Ton zwischen Übertreibung und Authentizität, ohne jemals ins Klamaukige abzurutschen. Es ist diese Mischung aus stimmlicher Virtuosität, schauspielerischer Präsenz und absoluter Selbstverständlichkeit auf der Bühne, die den Moment schlicht grandios macht. Ein Auftritt, der erneut beweist, warum Sarich im deutschsprachigen Raum in dieser Liga nahezu konkurrenzlos ist.

Mark Seibert übernahm mit „Everything I Do (I Do It for You)“ aus Robin Hood die Bühne als Bryan Adams des Musicals: kraftvoll, emotional tiefgehend und mit einer Stimme, die sowohl Wärme als auch Intensität transportierte. Jede Phrase schien mit Bedacht gewählt und jeder Höhepunkt sorgfältig aufgebaut.
Bettina Mönch präsentierte „It Must Have Been Love“ aus Pretty Woman mit einer Eleganz, die ihre Erfahrung als Musicaldarstellerin unterstreicht. Sie bewies, dass sie auch bei solch gefühlvollen Balladen eine souveräne Bühnenpräsenz hält, die den Song fließend, geschmeidig und doch voller Emotionalität trägt.
Ana Milva Gomez rundete diesen Block mit „I Will Always Love You“ aus Bodyguard ab – ein Gänsehautmoment vom ersten bis zum letzten Ton. Makellos in Technik und Ausdruck, strahlte ihre Stimme eine Ehrlichkeit aus, die das Publikum spürbar ergriff. Es ist diese perfekte Verbindung von stimmlicher Virtuosität und echter Gefühlspräsenz, die ihre Interpretation zu einem Höhepunkt des Abends machte.

Das Männerquartett mit „When You Say Nothing at All“ aus Notting Hill zeigte eindrucksvoll, dass große Stimmen auch in Zurückhaltung glänzen können. Mit feinem Gespür für Harmonie und Timing sangen Seibert, Perman, Emnes und Sarich einfühlsam und zugleich augenzwinkernd. Perman nahm dem Ganzen mit seiner selbstironischen Bemerkung „Keine Boyband – eher Oldies“ die letzte Spur Pathos, was das Publikum mit herzlichem Lachen und spürbarer Sympathie quittierte.
Vor der Pause durfte natürlich ABBA nicht fehlen: Das Frauentrio Bettina Mönch, Missy May und Ana Milva Gomez präsentierte das Mamma Mia-Medley mit ansteckender Energie – schwungvoll, sympathisch und mit sichtbarer Freude an der Nostalgie. Was leicht zur Routine geraten könnte, wirkte hier frisch und lebendig.
Direkt danach folgte ein Dance-Medley, das die Stimmung endgültig zum Kochen brachte: Flashdance, Maniac, Night Fever und Stayin’ Alive – ein mitreißender Mix, bei dem das Publikum kaum mehr auf den Sitzen blieb. Klatschen, Mitsingen, Tanzen – der Saal vibrierte vor Begeisterung. Ein mit Schwung und Glanz gesetzter Schlusspunkt vor der Pause.

Nach der Pause wurde es epischer: Das „Phantom der Oper“-Medley mit allen vier Herren (Die Musik der Nacht) ließ die Halle erzittern – selten verschmelzen vier Stimmen so ausgewogen. Das weibliche Terzett mit „I Don’t Know How to Love Him“ brachte Sanftheit zurück, bevor Mark Seibert mit „Somewhere Over the Rainbow“ feine Emotionen zeigte.
Dann kam Ana Milva Gomez wieder zu voller Form: „Never Enough“ aus The Greatest Showman – Standing Ovations, verdient und anhaltend. Ein Moment, in dem alles stimmte: Stimme, Orchester, Atmosphäre.
Drew Sarich zeigte mit „Don’t Wanna Miss a Thing“ (Armageddon) erneut, dass Rock seine zweite Muttersprache ist – energiegeladen, raumfüllend, authentisch. Ebenfalls mit großem Jubel bedacht.
Der James Bond-Block bringt Abwechslung: Lukas Perman singt den selten zu hörenden Song „You Know My Name”, Missy May überzeugt stimmstark mit „Licence to Kill”, Gino Emnes kämpft sich durch „Writing’s on the Wall” – ein Stück, das stimmlich durchaus herausfordernd ist und in den höchsten Lagen an seine Grenzen geht. Bettina Mönch setzt mit „Skyfall” ein starkes Highlight.
Zum Finale versammelten sich noch einmal alle auf der Bühne: „My Heart Will Go On“ aus Titanic – Pathos in Reinform, so schmelzend, dass man fast den Wind über dem Nordatlantik spüren konnte. Doch das Györ Philharmonics Orchestra trug den Song mit so sattem, warmem Klang, dass selbst notorische Ironiker ihre Augen nur ungern verdrehten.
Und dann – wie könnte es anders sein – „Time of My Life“ aus Dirty Dancing. Das Publikum stand, tanzte, jubelte. Ein würdiger Abschluss eines Abends, der beweist, dass große Filmmusik, gesungen von echten Bühnenkünstlern, zeitlos funktioniert.
Diese Gala war mehr als eine Aneinanderreihung schöner Melodien. Sie erinnerte daran, wie nah sich Musical und Film oft sind: Musicals basieren auf Filmen, Filme auf Musicals, und manchmal ist beides gleichzeitig Original. Filmliebhaber kamen ebenso auf ihre Kosten wie Musicalfans – viele alte Bekannte waren dabei, aber auch seltener gespielte Stücke. Ein mitreißender Abend, getragen von Freundschaft, Spielfreude und musikalischer Qualität.

SUPERBLOOM Festival 2025 im Olympiapark München – zwei Tage zwischen Klang, Kulisse und Gemeinschaft
von Marcel Eckerlein-Konrath
Das Super Bloom Festival hat sich in erstaunlich kurzer Zeit zu einem festen Bestandteil der Münchner Kulturlandschaft entwickelt. Was 2022 als neues Großevent startete, ist heute ein Fixpunkt im Spätsommerkalender der Stadt. Auch in diesem Jahr verwandelte sich der Olympiapark in ein Meer aus Farben, Klängen und Menschen. Rund 60.000 Besucherinnen und Besucher strömten in das Areal, das schon durch seine Architektur allein eine Besonderheit ist.
Das Olympiastadion, entworfen von Günter Behnisch und Frei Otto für die Olympischen Spiele 1972, gilt bis heute als Symbol einer offenen, transparenten Gesellschaft. Sein Zeltdach schwingt wie eine gläserne Landschaft über das Gelände, bricht das Licht, lässt Sonne und Wolken gleichermaßen durchscheinen. Dieses Zusammenspiel von Natur und Konstruktion macht den Ort zu einer einzigartigen Bühne. Gerade bei einem Festival wie Super Bloom entfaltet er seine volle Wirkung: Das Stadion ist weitläufig und monumental, doch zugleich vermittelt es das Gefühl, Teil einer gemeinsamen Erfahrung zu sein – eine Mischung aus Weite und Nähe, die in Europa ihresgleichen sucht.
An diesem Wochenende war es nicht nur die Architektur, die für Staunen sorgte. Die Energie der Menge machte den besonderen Zauber spürbar. Wenn zehntausende Arme gleichzeitig nach oben schnellten, wenn sich die Körper im Rhythmus bewegten und die Stimmen zu einem einzigen Chor verschmolzen, dann entstand das, was Festivals ausmacht: das Gefühl, Teil einer größeren Bewegung zu sein. Besonders deutlich zeigte sich das bei den Giant Rooks, die ihre Indie-Hymnen mit Verve präsentierten, oder bei Shawn Mendes, dessen Ausstrahlung unbestreitbar ist. Doch während Mendes von der Liebe seiner Fans getragen wurde, blieb sein Auftritt künstlerisch etwas hinter den Erwartungen zurück. Viel Charisma, ja – aber weniger musikalische Tiefe, als man sich von einem Headliner erhofft hätte.

Ganz anders Raye. Sie war das Glanzlicht des Wochenendes, eine Künstlerin auf dem Höhepunkt ihres Schaffens. Mit einer herausragenden Band, einem Sound, der in seiner Klarheit und Präzision Maßstäbe setzte, und einem Gesang, der gleichermaßen kraftvoll wie nuancenreich war, zog sie das Publikum unweigerlich in ihren Bann. Es war jener seltene Moment, in dem alles stimmte: Timing, Atmosphäre, Präsenz. Dass andere Auftritte unter kleineren Schwächen im Sound litten, machte die Professionalität ihres Sets nur noch deutlicher.
Das restliche Programm zeigte die Vielfalt des Festivals – und auch seine Brüche. Suki Waterhouse präsentierte ein solides, wenn auch eher austauschbares Set, das wenig Überraschungen bot. Juli hingegen weckten mit „Perfekte Welle“ kollektive Erinnerungen und sorgten für einen jener raren Momente, in denen Nostalgie die Menge einte. Jelly Roll überraschte mit einer Stimme voller Kraft und einer ehrlichen Direktheit, die man ihm sofort abnahm. Roy Bianco & Die Abbrunzati Boys spielten ihre ironischen Italo Schlager, doch nicht jeder im Publikum konnte mit diesem Konzept etwas anfangen. Alligatoah wiederum setzte auf eine exzentrische Inszenierung und schräge Ideen, die spalteten – für die einen unterhaltsam, für andere schwer zugänglich.
Zu den strahlenden Momenten gehörte zweifellos Nelly Furtado. Mit einer Präsenz, die Schönheit, Souveränität und Spielfreude vereinte, führte sie das Publikum durch ein kurzweiliges Programm. Ihre Stimme wirkte frisch, ihre Songs lebendig – ein Auftritt, der zugleich nostalgisch und zeitgemäß war. Post Malone schließlich beschloss den Samstag mit einem geschmackssicheren Set, das die Fangemeinde jubeln ließ, aber weniger Eingeweihte nicht in gleicher Intensität erreichte.
Auch Montez stand auf der Olympic Stage, kämpfte jedoch mit hartnäckigen In-Ear-Problemen. Diese führten zu Verzögerungen im sehr eng getakteten Ablauf, was für ihn sichtbar zur Herausforderung wurde. Umso bemerkenswerter, dass das Festival-Management die Gesamtorganisation trotzdem im Griff behielt: Durch die clevere Platzierung der beiden Hauptbühnen – Olympic Stage und Super Stage lagen direkt nebeneinander – mussten die Zuschauerinnen und Zuschauer zwischen den einzelnen Konzerten kaum warten. Oft vergingen nur wenige Minuten zwischen den Auftritten, die Pausen blieben angenehm kurz und man merkte, wie sehr diese Struktur für einen reibungslosen Fluss des Programms sorgte.
Das Wetter schrieb eine eigene Dramaturgie: Der Samstag war geprägt von Regenschauern, die Regenponchos zu einem festen Bestandteil des Festival-Looks machten. Doch selbst das konnte die Stimmung kaum trüben – es entstand vielmehr eine Art von Solidarität im Regen. Am Sonntag zeigte sich München dann von seiner schönsten Seite. Strahlend blauer Himmel, Sonne über dem Zeltdach, entspannte Gesichter im Gras – das Festival verwandelte sich in ein Sommermärchen, das den Auftakt des Herbstes fast vergessen ließ.
Organisatorisch überzeugte das Festival auf ganzer Linie. Wege waren klar, Abläufe funktionierten reibungslos, und vor allem das Bekenntnis zu Nachhaltigkeit verdient Anerkennung. Mülltrennung, bewusster Konsum und ständige Erinnerungen, aufeinander Acht zu geben und Grenzen zu respektieren, verliehen dem Event eine Haltung, die über die Musik hinausreicht. Man hatte das Gefühl, dass nicht nur ein Festival stattfindet, sondern ein Raum geschaffen wird, in dem Rücksichtnahme und Gemeinschaft im Vordergrund stehen.
So bleibt am Ende ein Wochenende, das in Erinnerung bleibt: durch die spektakuläre Kulisse des Olympiaparks, durch ein Programm, das zwischen strahlenden Höhepunkten und kleineren Schwächen pendelte, und vor allem durch das Gefühl, Teil einer Gemeinschaft zu sein, die für zwei Tage alles andere ausblendet. Super Bloom 2025 hat gezeigt, dass Festivals nicht nur Abfolgen von Konzerten sind, sondern Erlebnisse, die Architektur, Natur, Menschen und Musik zu einem größeren Ganzen verbinden.



Review: SPINNE
Schaubühne Berlin


von Marcel Eckerlein-Konrath
Eine Küche, wie man sie kennt oder zumindest, wenn man wie ich über ein Jahrzehnt im Berliner Wedding gewohnt hat: Kachelwand, klappernde Schränke, dazu löslicher Kaffee, Discounter-Toast. Es sind diese scheinbar beiläufigen Details, die Maja Zades neues Stück so treffend verortet. Und doch ist es kein Realismus, der diesen Theaterabend prägt, sondern das, was Caroline Peters daraus macht: eine solistische Großleistung, die mühelos ein ganzes Ensemble ersetzt.
Caroline Peters spielt Julia, eine Frau Mitte vierzig, allein, durchdrungen von einer Art existenzieller Aufgeriebenheit, die Peters mit leiser Brillanz greifbar macht. In einem Moment erinnert sie sich an eine Kindheitsszene – ein Spiel im Sand, ein vermeintlicher Ast, der sich als Spinnenbein entpuppt – und plötzlich taucht sie tief ein in eine Erzählung über frühe Ekelmomente, über Angst, über das, was unter der Oberfläche lauert. Die Spinne als Sinnbild: ein dunkles, haariges Wesen, das aus der Vergangenheit kriecht, verstörend und zugleich bildstark. Eine Metapher, die bei Zade nicht platt wirkt, sondern greifbar macht, wie körperlich tief Erinnerungen wirken können – vor allem, wenn sie sich mit gesellschaftlichen Abgründen verweben.
Zade spannt diesen Faden weiter: Drei Jahrzehnte nach dem Sandkasten trifft Julia ihren alten Freund Kris wieder. Die Szene – ein edles italienisches Restaurant in Charlottenburg, ein (un)erwartetes Wiedersehen. Die Leichtigkeit von damals, kurz aufflackernd, wird rasch vom politischen Ernst überlagert. Kris trägt jetzt Designeranzug, redet wie ein braver Bürger und entpuppt sich doch bald als ein Mann, der sich ideologisch verirrt hat. Ein AfD-Versteher, ein Anwalt, der Rechtsextreme vertritt, der sich als Opfer eines Systems inszeniert, das ihm angeblich nichts gönnt. Die Entfremdung wird greifbar, schleichend, fast leise aber gnadenlos.

Was sich bei diesem Treffen mit Kris und seiner bald ebenfalls erscheinenden Frau Christiane sowie dem fünfzehnjährigen Filius Korbinian entfaltet, entrollt Peters auf engstem Raum in knapp anderthalb Stunden mit einer Mischung aus lakonischer Präzision und unterschwellig brodelnder Wut vor uns in ihrer Wohnküche aus (klug und nüchtern gestaltet von Nina Wetzel), wo sie Toast in den Toaster steckt, Kaffee aufsetzt und sich durch ihre Gedanken bewegt wie durch ein Labyrinth.
Im Hintergrund flackern Videoeinspielungen von Sébastien Dupouey – Fragmente des Restaurantabends, Demonstrationen, Insektenbilder, verzerrte Bundestagssilhouetten. Sie stören nicht, sie illustrieren – aber notwendig sind sie nicht. Denn alles Wesentliche passiert im Gesicht, in der Stimme von Caroline Peters.
Sie trägt diesen Monolog mit einer Leichtigkeit, die schwer wiegt. Mit stiller Wut und leiser Komik. Mit analytischer Schärfe und zugleich einer tiefen Verletzlichkeit. Sie beobachtet nicht nur, sie durchlebt – und kommentiert sich dabei selbst, mit einem ganz feinen Gespür für Doppeldeutigkeiten und Zwischentöne. Immer wieder springt sie zwischen Ebenen: mal ist sie Julia heute, mal Julia damals, mal Kris, mal dessen Frau. Diese Wechsel sind keine Brüche, sondern fließende Übergänge, die die Struktur des Textes elegant offenlegen.
Zade hat einen Text geschrieben, der pointiert und sehr kurzweilig ist. Ihre Worte sind konzentriert, dicht, stark aus der Innenperspektive entwickelt. Was ihm vielleicht an szenischer Breite fehlt, macht Caroline Peters durch ihre Vielschichtigkeit mehr als wett. Sie erschafft nicht bloß eine Figur, sie füllt ein ganzes Universum.
Dass das Gespräch mit Kris am Ende scheitert, ist fast schon eine bittere Notwendigkeit. Der Bruch ist realistisch, weil der Versuch, politische Fronten im Privaten zu kitten, oft an der Lebensrealität zerschellt. Dieses gescheiterte Gespräch ist dabei alles andere als leer. Es ist eine präzise Momentaufnahme unserer Gegenwart: Wie redet man mit einem alten Freund, der sich politisch radikalisiert hat? Was tun mit der Mischung aus Nostalgie und Entsetzen? Und was, wenn einem die Argumente fehlen, nicht aus Dummheit, sondern aus Überforderung?
Das Gefühl, sich über Nebensächlichkeiten zu verlieren, statt dem Kern auszuweichen, ist nur allzu bekannt. Statt eines Ex-Freunds über der Decke war es bei mir ein anstrengender Nachbar, doch die psychologischen Reibungsflächen, das Gefühl des Eingeklemmtseins, das ist gleich.
Peters gelingt es, all das spürbar zu machen – ohne laute Gesten, ohne Pathos. Sie gibt der Ratlosigkeit ein Gesicht, das in Erinnerung bleibt. Ihre Leistung ist nichts weniger als ein Theaterereignis: Sie ist Erzählerin, Kommentatorin, Spielerin – ein mehrstimmiges Ensemble in einer Person. Und das mit einer schwebenden Eleganz, die jederzeit geerdet bleibt.
Zade entwirft mit der Figur der Julia keine idealisierte Heldin, sondern eine glaubwürdige Figur. Julia ist keine politische Ratgeberin, sondern eine Figur im Ringen mit sich selbst, mit Widersprüchen und Sprachlosigkeit. Dass sie dieser Sprachlosigkeit so scharfkantig und komisch zugleich Ausdruck verleiht, ist das Verdienst Caroline Peters’. Ihr Spiel: messerscharf, beiläufig, uneitel und immer auf dem Punkt.
„Spinne“ ist kein Stück mit einfachen Antworten. Es gibt keinen Wandel, keine Versöhnung, kein klares Fazit. Was bleibt, ist ein feines Netz aus Gedanken, Zweifeln und Beobachtungen. Und mittendrin eine Schauspielerin, die es versteht, dieses Netz mit größter Sorgfalt zu spinn
Review: Lionel Richie live in Berlin
Uber Arena

von Marcel Eckerlein-Konrath
Lionel Richie ist ein Profi. Seit über vierzig Jahren steht er auf den großen Bühnen dieser Welt, und wer ihn an diesem Sommerabend in Berlin sieht, bekommt genau das, was man von einem Lionel-Richie-Konzert erwarten darf: einen Abend voller Hits, viel Charme, routinierter Herzlichkeit – und wenig Überraschungen.
Die Uber Arena ist komplett bestuhlt, ein seltener Anblick bei einem Popkonzert. Aber es passt zu diesem Publikum: viele Herren in Hawaiihemden und Camp-David-Jacken, die Damen wahlweise in glitzernden Blumenprints oder mit sorgfältig geglättetem Haar. In der ersten Reihe sitzen die Hardcore-Fans, manche tragen Lionel-Richie-Shirts und formen bei jeder Ballade kleine Herzchen mit den Händen.
Gleich zu Beginn wird klar: Hier wird nichts dem Zufall überlassen. Auf der LED-Leinwand laufen in der Ouvertüre Albumcover und Auszeichnungen von Richie vorbei: Grammys, Oscar, Kennedy Center Honors.
Dann fährt Richie, umgeben von Nebel, aus dem Bühnenboden und beginnt mit „Hello“. Natürlich. Nicht weil es die überraschendste Wahl wäre, sondern weil es die sichere ist. Lionel Richie weiß, wie das Spiel funktioniert. Er erzählt von Berlin, dem „melting pot of the world“, und schwärmt vom Wetter, das so gut sei, dass er befürchte, einen Sonnenbrand zu bekommen. Berlin lacht. Richie ruft „Berlin is loud!“. Der weiße Flügel, die große LED-Wand, der Laufsteg ins Publikum – alles ist vorhanden, alles sieht gut aus, aber auch ein wenig aus der Zeit gefallen. Die visuelle Gestaltung bewegt sich irgendwo zwischen animiertem Grußkartenkitsch und altem Windows-95-Bildschirmschoner. Das Publikum stört’s nicht, die Stimmung ist freundlich, erwartungsvoll, sogar euphorisch.

Musikalisch ist alles solide. Die fünfköpfige, gut eingespielte Band hält ihm den Rücken frei, Richie selbst braucht keine Tänzer, keine Pyro, keine überflüssige Geste. Seine Stimme? Immer noch erstaunlich stabil (oder einfach nur verdammt gut abgemischt, je nachdem, wie man’s betrachtet.) Die Übergänge zwischen den Songs sind fließend, immer wieder mit kleinen Bonmots Richies verbunden. Klassiker wie „Easy“, „Sail On“, „Stuck On You“ und das immer noch wunderbar sentimentale „Three Times A Lady“ kommen in schneller Folge, aber ohne Eile.
Immer wieder spricht Richie zum Publikum – und, mindestens genauso gern, über sich selbst. Wie er das mit dem Tanzen noch hinkriegt, möchte er wissen. Die Antwort liefert er gleich mit: „I’m in pain. A lot of pain.“ Das Publikum lacht pflichtbewusst. Aber, sagt er, wenn die Crowd heiß ist, dann „everything’s okay“. Und Berlin – das ist heute „hot“. Richie klatscht fürs Publikum, das Publikum klatscht artig zurück.
Zwischendurch wird’s auch mal etwas seelenwärmend: „Family“, „respect“, „understanding“, „joy“, „love“ – all das brauche die Welt. Das klingt ein bisschen wie aus einem besonders kitschigen Poesiealbum aber Richie meint es anscheinend ernst oder hat es zumindest gut einstudiert.

Wirklich unangenehm wird es kurz, als er die Männer im Publikum auffordert, ihre „ladies“ in den Arm zu nehmen und gemeinsam auszurufen: „Lionel is amazing!“ Das ist der Moment, in dem man sich fragt, ob man jetzt lachen oder still in seinen Sitz sinken soll. Sehr amerikanisch, sehr heteronormativ – und nicht frei von Cringe. Aber niemand protestiert.
Was folgt, ist eine Mischung aus Greatest Hits, moderner Motivationsrede und Wohnzimmerplauderei. „Endless Love“ singt er nicht allein. „My dear friend Diana Ross“ sei heute nicht in Berlin. Stattdessen übernimmt das Publikum ihren Part – nicht besonders schön, aber mit viel Gefühl. Und das reicht. Berlin liegt sich wieder in den Armen.
Nach „We Are the World“, einem Song, der auch fast 40 Jahre später noch aufrichtig wirkt, ist eigentlich alles gesagt. Es folgt die einzige Zugabe: „All Night Long“. Alle stehen. Alle tanzen. Lionel Richie übernimmt dabei die Rolle eines routinierten Gastgebers – charmant, aufmerksam, mit dem typisch amerikanischen Gespür fürs Timing. Richie macht, was er seit Jahrzehnten macht: und macht es gut. Die Show ist glatt, routiniert, stellenweise charmant, manchmal etwas altmodisch, aber immer unterhaltsam. Wer kam, um Hits zu hören und sich kurz zurück in die 80er zu träumen, wurde nicht enttäuscht. Große Überraschungen gab es keine, aber vielleicht war genau das der Plan.
Review: Diana Damrau und Jonas Kaufmann live in der Berliner Philharmonie

von Marcel Eckerlein-Konrath
Es ist der letzte Juniabend, und in der Berliner Philharmonie treffen sich Opernfans der höheren Altersgruppen zur Begegnung zweier Giganten: Diana Damrau und Jonas Kaufmann geben sich die Ehre. Schon beim Betreten des Saals liegt dieser Hauch von „großem Ereignis“ in der Luft – das Publikum ist bereit, zumindest rein äußerlich.
Denn ein Konzertabend beginnt, wie sollte es anders sein, mit dem bekannten Opernritual. Erst wird gehustet, dann werden Plätze gesucht, die sich als falsch herausstellen, dann wird erneut gehustet. Es ist ein gepflegtes, kulturell informiertes, fast schon kunstvoll gestaffeltes Husten: vom vornehmen Einzelhuster im Parkett bis zur massiven Gruppensymphonie im rechten Rang. Wie eine Archäologin auf der Suche nach einem seltenen Artefakt gräbt sich eine Dame durch eine Handtasche, die offenbar seit den Salzburger Festspielen 1987 nicht mehr geöffnet wurde. Eine andere Besucherin mit Fernglas hat Position bezogen, die grauhaarige Entourage blättert angestrengt in ihren Programmheften, während irgendwo vor mir das Bonbon mit der vermutlich lautesten Verpackung der westlichen Hemisphäre entfaltet wird.
Man sagt, Musik beginnt dort, wo Worte enden. Und doch lohnt es sich, ein paar Worte über diesen Abend zu verlieren. Wenn Diana Damrau und Jonas Kaufmann gemeinsam auf der Bühne stehen, wird schnell klar, warum ihre Namen immer noch regelmäßig im Opernolymp präsent sind.
Diana Damrau, die Stimmakrobatin mit Charme, und Jonas Kaufmann, der Tenor gewordene Gedanke eines Dirigenten. Sie bringen einen Abend mit, der auf dem Papier klingt wie ein Jahrhundertprogramm: Strauss. Mahler. Noch mehr Strauss. Alles zwischen Zueignung und Ich bin der Welt abhanden gekommen.
Damrau singt, als hinge der Liedgesang vom Überleben der Kunstform selbst ab. Ihre Stimme ist leuchtend, wendig, dramatisch aufgeladen und lässt bei Ich trage meine Minne fast eher eine kleine Oper als ein Lied vermuten. Was Damrau singt, das zeigt sie auch, manchmal in großen Gesten, aber vor allem in fein gesetzten Nuancen, als hätte ihr Gesicht eine eigene Partitur.
Kaufmann überzeugt mit einer technisch makellosen und klanglich ausgeglichenen Interpretation. Sein Tenor bleibt in den Mahler-Liedern stets kontrolliert und fein geführt. Besonders Ich atmet’ einen linden Duft gelingt ihm mit großer Zurückhaltung und einer fast meditativen Ruhe.
Die Liedauswahl ist üppig und vielseitig, bietet ein breites Spektrum zwischen intimer Klangwelt und dramatischer Aufladung. Dramaturgisch wirkt das Programm allerdings eher mosaikartig – Momente großer Intensität wechseln sich mit abrupten Übergängen ab, die wenig Raum zur emotionalen Nachhall lassen. Besonders bei Mahler, dessen „Wunderhorn“-Lieder zwischen kindlicher Ironie und existenzieller Tiefe schwingen, hätte man sich gelegentlich einen Atemzug mehr gewünscht – ein Innehalten, bevor es weitergeht.
Die Musik selbst? Hochwertig. Natürlich. Kunstvoll, ausgefeilt, perfekt artikuliert, mit appoggiatura, messa di voce und allem, was Opernsänger zittern lässt. Begleitet werden Damrau und Kaufmann kongenial von Helmut Deutsch, dem langjährigen Klavierpartner Kaufmanns, dessen Können viele Liedersänger schätzen – so beschreibt ihn die Süddeutsche Zeitung.
Nach gut 80 Minuten Netto-Spielzeit folgt verdienter, ausdauernder Applaus. Stimmlich bleiben Damrau und Kaufmann, was sie sind: Ausnahmekünstler von internationalem Format. Und doch schleicht sich der Gedanke ein, ob ihre Bühnenpräsenz nicht noch stärker zur Geltung käme, wenn sie sich in einem dramatisch aufgeladenen Opernabend begegneten – in einer Tosca, einer La Traviata oder einer anderen Bühne, die mehr Konflikt als Schlagende Herzen und Wer hat dies Liedlein erdacht verlangt.
Am Ende Standing Ovations. Das hat man sich verdient, vor allem das Publikum. Kaufmann lächelt. Damrau strahlt. Und irgendwo im Rang wird wieder ein Bonbon ausgepackt. Ein würdiger Schlusspunkt. Loriot hätte wohl gesagt: „Wenn jemand bei Strauss nicht hustet, hat er nichts verstanden.“


Review: Disney in Concert
Follow Your Dreams Olympiahalle München


von Marcel Eckerlein-Konrath
Disney steht für Emotionen, Musik, Erinnerungen. Mit „Follow Your Dreams“ wollte das Format „Disney in Concert“ genau das liefern – bekannte Melodien, große Gefühle und ein Hauch Kindheitszauber, live begleitet vom Hollywood Sound Orchestra unter der Leitung von Wilhelm Keitel. Doch der Funke wollte an diesem Abend in der Olympiahalle München nicht ganz überspringen.
Schon beim ersten Ton wurde deutlich: Die Halle, halb gefüllt, ist schlicht kein idealer Ort für dieses Format. Die Akustik bleibt weit hinter dem zurück, was das Orchester leisten kann – statt sattem Klangteppich oft nur ein flacher Sound, der stellenweise sogar von der gegenüberliegenden Tribüne zurückhallt. Der Detailreichtum der Arrangements, die Dynamik der Musik – all das kommt kaum zur Geltung. Ein Theatersaal oder Konzerthaus wäre hier eindeutig die bessere Wahl gewesen.
Dabei war das Programm abwechslungsreich und durchaus liebevoll zusammengestellt. Klassiker wie Peter Pan, Bambi oder Alice im Wunderland trafen auf moderne Disney-Welten wie Alles steht Kopf, Ratatouille und Encanto. Moderator Daniel Boschmann stimmte das Publikum zu Beginn mit einem generationsübergreifenden Ansatz ein, der funktionierte: Erinnerungen an die ersten Disney-Filmerlebnisse, weitergereicht von Eltern an Kinder, machten deutlich, wie stark diese Musik emotional verankert ist – und wie sehr sie über Generationen hinweg verbindet.
Eröffnet wurde der Abend von Sabrina Weckerlin mit „Waiting On A Wish“, dem Hauptsong aus dem neuen Schneewittchen-Film mit Rachel Zegler: ein eher problematisches Projekt aus dem Hause Disney, aber musikalisch ein stimmungsvoller Einstieg, passend zum Motto der aktuellen Tour. Weckerlin, die jahrelang als Elsa in Hamburg auf der Bühne stand, brillierte mit „Ich lass jetzt los“ aus Die Eiskönigin – ein Gänsehautmoment. Kraftvoll, präzise, mit emotionalem Tiefgang und technischer Leichtigkeit. Mit „Reflection“ aus Mulan setzte sie ein weiteres Higlight. Auch ihr „Wo noch niemand war“ aus Die Eiskönigin 2 berührte durch Gefühl und technische Finesse. Weckerlin gehört ohne Zweifel zu den stärksten Musicalstimmen des Landes.
Alexander Klaws kam im ersten Teil etwas zu kurz, holte aber im zweiten Teil mit dem großen „König der Löwen“-Finale spürbar auf und zeigte mit „Can You Feel The Love Tonight“ aus König der Löwen eine starke Bühnenpräsenz, hatte es aber mit „Evermore“ aus dem Beauty and the Beast-Realfilm hörbar schwer. Es ist ein schwieriger Song mit großer emotionaler Spannweite, und Klaws bringt viel Ausdruck mit – aber er ist eben kein Josh Groban. Dennoch: sein Engagement war spürbar, sein Einsatz absolut respektabel.
Charmant und nostalgisch: Klassiker wie „Katzen brauchen furchtbar viel Musik“ aus Aristocats oder „So ein Strolch“ aus Susi und Strolch. Etwas blaß dagegen: „Ein Mensch zu sein“ aus Arielle. Abla Alaoui singt zwar gut und mit viel Wärme, doch es fehlt ein wenig am schauspielerischen Feinschliff. Ein Musicalsong verlangt eben mehr als nur stimmliche Präzision, denn er will interpretiert, gespielt, erzählt werden. Punkten kann sie allerdings mit der kraftvollen Version von „Speechless“ aus Aladdin.
Chasity Crisp beeindruckte mit ganz unterschiedlichen Songs: dem zarten, fast spirituellen „Tulou Tagaloa“ aus Vaiana und dem gefühlvollen „Farbenspiel des Winds“ aus Pocahonta. Beide Lieder lebten von ihrer klaren Stimme und der spürbaren Verbindung zur Musik: ein ruhiger, eindrucksvoller Kontrast zu den größeren Show-Momenten. Besonders gelungen war der Ratatouille Block, in dem Crisp mit „Le Festin“ einen der musikalisch stimmungsvollen Moment gestaltete. Die französische Chanson-Ästhetik des Songs, melancholisch, zart und dennoch hoffnungsvoll, traf sie mit viel Gefühl und einer angenehmen Leichtigkeit in der Stimme. Ein stimmungsvoller Kontrast zu den großen Power-Balladen des Abends und ein gutes Beispiel dafür, wie stark auch die leisen Töne im Disney-Kosmos sein können, wenn sie mit solcher Präzision und Sensibilität dargeboten werden. Ebenfalls berührend: das Trio Gonzalo Campos López, Alexander Klaws und Elindo Avastia mit „Dos Oruguitas“ aus Encanto. Ein Moment, in dem die Musik tatsächlich ganz im Mittelpunkt stand: ruhig, ehrlich und schön gesungen.


Musikalisch gab es viele vertraute Titel, aber auch einige fragwürdige Entscheidungen. So etwa der Song „Ich wollte immer einen Bruder“ aus Mufasa: Der König der Löwen, gesungen von Elindo Avastia und Gonzalo Campos López. Der Song blieb sowohl textlich als auch musikalisch eher blass. Die Stimmen der beiden Sänger kamen in der Akustik der Olympiahalle kaum zur Geltung, der Text war schwer verständlich, die Melodie wenig einprägsam.
Die Dramaturgie des Abends pendelte spürbar zwischen stimmungsvoller Konzertinszenierung und geschickt eingebetteter Promotion. Natürlich ist es Disney – ein Name, der wie kein anderer für Familie, Träume und Kindheitserinnerungen steht. Und genau darauf wurde gezielt: emotionale Momente, vertraute Melodien, Figuren, mit denen ganze Generationen aufgewachsen sind. Doch neben der Musik war auch die Markenpräsenz allgegenwärtig. Trailer für neue Serien und Filme auf Disney+, eine auffällig platzierte Werbung für das kommende Lilo & Stitch-Remake: all das wirkte weniger beiläufig als vielmehr bewusst inszeniert. „Follow Your Dreams“ schien an manchen Stellen weniger künstlerisches Leitmotiv als vielmehr Motto der Marketingmaschine Disney.
Trotzdem: Wer mit Vorfreude zum Disney Konzert gekommen war, wurde nicht enttäuscht. Kinder summten mit, Erwachsene schwelgten in Erinnerungen. Es gab berührende Momente, beeindruckende Stimmen, ehrliche Begeisterung auf und vor der Bühne. Der Abend war sicher kein makelloser Konzertmoment, denn die akustischen Schwächen der Olympiahalle blieben spürbar, aber er war getragen von genau jenem Wunsch, den Disney seit jeher verkauft: dass Träume ihren Platz haben dürfen.
Gerade weil so viele musikalische und emotionale Highlights an diesem Abend möglich waren – und einige auch tatsächlich gelungen sind – bleibt der Wunsch, beim nächsten Mal einen Rahmen zu wählen, der diesen Momenten gerecht wird. Eine intimere, akustisch geeignetere Location würde der Musik, den Stimmen und der Stimmung weit besser dienen als die weite Olympiahalle, in der vieles einfach verloren ging. Disney lebt von der Magie der Details – und genau die brauchen den passenden Raum, um zu wirken.
Review: Anna Depenbusch
Redoutensaal Erlangen
Zwischen Liebe, Kummer und kosmischer Poesie

von Marcel Eckerlein-Konrath
Draußen kündigt der Mai bereits mit warmen Sonnenstrahlen den nahenden Sommer an, drinnen empfängt uns Anna Depenbusch im barocken Redoutensaal in Erlangen. Und treffender könnte man es kaum einrahmen: Während draußen vorsommerliche Wärme über den Schlossgarten zieht, entfaltet sich drinnen ein ebenso zartes wie kraftvolles Kaleidoskop musikalischer Emotionen. Mit einem charmanten „Schön, dass ihr da seid – herzlich willkommen“ lädt die Hamburger Liedermacherin ihr Publikum zu einer Reise „von der Liebe in den Kummer und wieder zurück“ ein. Und man folgt ihr gerne.
Und diese Reise beginnt – wie könnte es passender sein – mit „Ein Tag im Mai“. Anna nimmt uns sofort mit in ihre Welt, eine Welt der leisen Zwischentöne, der klugen Worte, der großen Emotionen. Ihre Stimme – kristallklar, dabei zart und doch so präsent – schwebt durch den traditionsreichen Saal wie eine angenehme Frühlingsbrise.
Dann greift Anna auf einen Song zurück, der sinnbildlich für den ganzen Abend steht: „Immer wenn“. Ein Lied, das das Zerrissene, das Schöne und das Unfassbare des Lebens in poetischen Bildern und musikalischer Eleganz verwebt: „Immer wenn mir klar ist, wie nah du mir bist / Euphorie, Melancholie / Ich bin ein Teil von beiden Seiten / Weil ich lebendig bin / Immer wenn mein Herz sich überschlägt / Macht es Sinn“.
Diese Liedzeilen sind pure Lyrik – lebendig, verletzlich und lebensbejahend. Anna, die sich selbst als Liedermacherin bezeichnet, lässt in diesem Moment keinen Zweifel daran: Ihre Texte sind keine gefälligen Reime, sondern fein gewobene Geschichten, die klingen, itensiv brennen, wehmütig erinnern. Und in Erlangen trifft dieser Klang auf das stilistisch perfekte Kaiser Quartett, das ihren Liedern neue, kammermusikalische Kleider verleiht – elegisch, überraschend, meisterhaft.
Es ist eine besondere Tour. Anna erzählt offen von dem Brand, der ihr Zuhause, ihr Studio, ihre kreative Heimat zerstört hat – ein Trauma, das sie mit bemerkenswerter Offenheit teilt. „Ich schwanke zwischen Traurigkeit und Dankbarkeit“, sagt sie – und genau das spiegelt sich in jedem Lied. Wenn sie „Engel“ singt, klingt es wie eine Umarmung für alle, die im Stillen kämpfen: „Ich bin nur ein Engel, auf deine Bahn gelenkt / Der leise an dich denkt“.
Dass Anna auch mit Tiefgang Humor verbinden kann, zeigt sie mit dem pointierten „Alphabet“ – ein Song, der mit kluger Leichtigkeit durch die Höhen und Tiefen moderner Beziehungen tanzt: – augenzwinkernd, pointiert, sprachlich virtuos. Vom A wie Anfang bis Z wie Zukunft wird das emotionale ABC lebendig.
Das Kaiser Quartett ist nicht nur Begleitung, sondern mitgestaltende Kraft. Es verleiht den Arrangements eine sinfonische Tiefe – von feinfühlig bis virtuos, klassisch anmutend bis energiegeladen. In „Ebbe und Flut“ erklingt ein zarter Wellengang in den Streicherbögen, bei „Schnell“ brilliert das Quartett in eigener Sache: präzise, mitreißend, kammermusikalisch auf höchstem Niveau.
Mit der „Haifischbarpolka“, geschrieben von Depenbusch am Hamburger Fischmarkt, nimmt sie das Publikum mit an Deck. Textzeilen wie: „Komm tanz mit mir so als wären wir verliebt / Auch wenn es ab morgen kein morgen mehr gibt /Ja dann halt mich fest so als wären wir verliebt /Bevor noch der Rest unserer Liebe verfliegt“ wirken wie Fragmente eines Hafentagebuchs. Der Applaus des Erlanger Publikums ist lang, ehrlich und begeistert.
Bei „Wenn du nach Hause kommst“ verwandelt sich dann der Redoutensaal in einen verrauchten Jazzclub. Anna flirtet musikalisch, spielt mit Timing und Tonfall, mit Charme und Chanson. Die Mischung aus Wortwitz und Alltagsnähe funktioniert hervorragend und wird dankend vom Publikum mit viel Applaus honoriert. „Ich lebe gerade aus dem Koffer“, sagt Anna und spielt „Stadt Land Fluss“ in dem sie von ihrem Leben im Transit singt – poetisch, leicht melancholisch, voller kluger Bilder: Zwischen Bahnhöfen, Konzertsälen und Gedankenlandschaften macht sie spürbar, wie sehr Bewegung auch ein innerer Zustand ist. „Alle sagen, Du brauchst ein Ziel / Doch was passiert, wenn da nichts ist? / Weil das Ziel du selber bist“. Ein Song wie eine Zugfahrt durch ein Leben – melancholisch, aber nie resigniert.
Besonders eindrucksvoll: „Eisvogelfrau“, Anna Depenbuschs Hommage an die Mathematikerin Emmy Noether – deren Name untrennbar mit Erlangen verbunden ist. Mit glänzenden Augen erzählt Anna von dieser Pionierin, ihrem Mut und ihrer Genialität – und verwandelt mathematische Leidenschaft in Musik. „Und du leuchtest heller als jeder Scheinwerferschein / Und wir hör’n deine Stimme bis in die hintersten Reihen“. Noether gilt als Pionierin der abstrakten Algebra und theoretischen Physik. Ihr berühmtester Beitrag, der Noether’sche Satz, verbindet Symmetrien in der Physik mit Erhaltungsgesetzen – ein Grundpfeiler moderner Physik. Trotz großer Widerstände als Frau in der Wissenschaft erlangte sie weltweit Anerkennung.
Der Song „Fürimmersekunde“ beschreibt dann einen intensiven, flüchtigen Moment der Nähe und Liebe, in dem alles möglich scheint. Es geht um das Gefühl, gemeinsam über sich hinauszuwachsen, Hindernisse zu überwinden und aus einem einzigen Augenblick eine ganze Geschichte zu schreiben – getragen von Vertrauen, Mut und der Kraft des Augenblicks.
Einer der emotionalen Höhepunkte: „Die schönste Melodie“. Ein Lied über Verlust, Erinnerung, Liebe. Das neue Arrangement mit dem Quartett hebt den Song auf eine neue Ebene – filigran, dramatisch, tief bewegend „Und ich hör all die Lieder und die laute Musik / Doch nichts klingt so wie Du“.
Anna Depenbusch beschreibt in ihrem nächsten Lied („Astronaut“) ihren Protagonisten als Symbol für emotionale Isolation und innere Leere – ein Mensch, der sich von der Welt entfremdet hat. In ihrem poetischen Weltbild, in dem Songs bereits im Kosmos existieren und nur darauf warten, den richtigen Menschen zu finden, erscheint dieser Astronaut wie eine solche „himmlische Botschaft“, die in ihrem Leben gelandet ist. Der Astronaut zieht einsam durchs All – schwerelos, fern der Erde, fern von Beziehungen. Er ist jemand, der alles Irdische für banal hält, sich nicht mehr berühren lässt, nichts mehr fühlen will. Es ist ein Porträt eines innerlich ausgebrannten Menschen, dessen Herz „verschlissen“ ist und der sich so leer fühlt wie der Mond – kalt, unbewohnt, lichtlos. Anna gelingt es, durch eindringliche Bilder (Planeten, Raketen, Kometen) die Sehnsucht nach Flucht, nach Abenteuer – aber auch die tiefe Einsamkeit – poetisch zu verweben. Der Astronaut ist nicht mutig, sondern verletzt. Und so wird das Lied zur leisen, berührenden Reflexion über Rückzug, Verlust und die verzweifelte Suche nach Bedeutung – irgendwo zwischen Himmel und Erde.
Natürlich fehlen am Ende auch nicht die Klassiker: „Tim liebt Tina“. Das Lied ist die wunderbar ironisch-humorvolle Momentaufnahme des komplizierten Freundeskreises der Anna Depenbusch, in dem jeder irgendwie liebt – aber nie die richtige Person. Es erzählt von einem bunten Beziehungsgeflecht voller unerwiderter Gefühle, Seitensprünge und verpasster Chancen. Ein schräges, ehrliches und bittersüßes Lied über vernetzte Herzen, die alle irgendwie aneinander vorbeischlagen mit dem wunderschönen Reim: „Die Liebe kommt, die Liebe geh / Sie brennt und bricht / Die Liebe hält was sie verspricht […] Wir lachen, wir leiden / Verlassen und bleiben / Wir leben und lernen daraus.“
Mit dem „Tretboot nach Hawaii“ in reiner Unplugged-Version, gänzliche ohne Verstärkung, verabschiedet sich Anna so, wie sie den Abend eröffnete: charmant, witzig, einladend, klug – und mit einem tiefen Verständnis für das, was Musik im besten Fall tun kann: Menschen berühren. Anna Depenbusch ist eine Erzählerin, Seelentrösterin, Gedankenverwandte. Ihre Lieder sind zart und kraftvoll, verspielt und durchdrungen von Lebenserfahrung. Unterstützt vom grandiosen Kaiser Quartett entsteht ein Abend über das Leben – mit all seinen Brüchen, seiner Schönheit, seinem Schmerz und seinem Licht.
Ein Abend, an dem es Sinn machte. „Weil die Zeit so schnell vergeht / Wenn der ganze Körper bebt / Weil ich lebendig bin / Dann macht es Sinn.“

Review: THIS IS THE GREATEST SHOW
Meistersingerhalle Nürnberg


von Marcel Eckerlein-Konrath
Ein Abend, der den großen Titel „This is the Greatest Show“ trägt, verspricht nicht weniger als eine geballte Ladung Musical-Magie. In der Meistersingerhalle Nürnberg versammelte sich ein Ensemble aus bekannten Stimmen der deutschsprachigen Musicalszene, um ein Best-of populärer Bühnensongs zu präsentieren – ergänzt durch einige poppige Ausflüge und einem Special Guest.
Musikalisch begleitet von einer spielfreudigen Liveband, unter der Leitung von Florian Bölker, der verlässlich durch das Genre-Potpourri navigiert, gelingt es der Show, einen abwechslungsreichen Rhythmus zu schaffen – auch wenn nicht jede Nummer atmosphärisch ganz zündet. Der Sound bleibt über weite Strecken transparent.
Moderiert wurde der Abend von Mark Seibert, der mit Routine und klarer Struktur durch das Programm führte. Seine Anmoderationen waren stets professionell und gut vorbereitet, wenngleich sie in manchen Momenten etwas zurückhaltend wirkten. Ein Hauch mehr Spontaneität und persönliche Note hätte der lebendigen Atmosphäre des Abends zusätzlich gutgetan. Sein eigener Auftritt mit „Hurricane“ aus dem japanischen Musical „Death Note“ hingegen gerät zu einem der stärkeren Momente des Konzerts: intensive Präsenz verbunden mit vokaler Sicherheit.
Ein erster emotionaler Höhepunkt ließ nicht lange auf sich warten: Karolin Konert überzeugte mit „Fireworks“ (Moulin Rouge!) – gesanglich präzise, fein nuanciert und berührend in der Interpretation.
Verena Mackenberg wiederum lieferte mit „Cabaret“ als Sally Bowles ein stimmliches wie darstellerisches Highlight. Obwohl eindrucksvoll umgesetzt, erinnerte dieser Auftritt allerdings in nahezu allen Details frappierend an die gefeierte Londoner Produktion von Rebecca Frecknall und insbesondere an Amy Lennox‘ Auftritt bei den Laurence Olivier Awards – eine „Homage“, die in ihrer Direktheit fast überdeutlich geriet.
Weniger stimmig wirkte hingegen der Auftritt von Special Guest Daniel Schuhmacher. Mit seinem DSDS-Gewinnersong „Anything But Love“ lieferte er zwar stimmlich souverän ab, doch der Song wirkte inmitten einer Musical-Gala kontextuell deplatziert. Die dramaturgische Einbindung blieb fragwürdig, der Mehrwert für den Abend nicht nachvollziehbar.
Im Gegensatz dazu funktionierte das Quartett bei „Frei und schwerelos“ (Wicked) hervorragend. Die stimmliche Balance der vier Solistinnen (Verena Mackenberg, Melina Hendel, Esther-Larissa Lach und Lina Kropf) entfaltete eine echte Bühnenmagie und die Gänsehaut war spürbar im Saal. Auch der Auftritt des Choir of Man zum Ende des ersten Aktes ließ mit Energie und Präsenz nichts vermissen.

Unter der Regie von Yara Hassan war der Abend insgesamt routiniert und flüssig arrangiert, auch wenn einige Nummern in ihrer Umsetzung nicht restlos überzeugten. Das Quartett (Karolin Konert, Verena Mackenberg, Lina Kropf, Froukje Zuidema) „Ich gehör nur mir“ (Elisabeth) etwa litt unter einem etwas bemüht wirkenden Arrangement, das mit ethnisch anmutenden Sounds experimentierte, welche nicht ganz zur Melodramatik des Originals passen wollten. Obwohl gesanglich stark, verlor das Lied dadurch seinen dramaturgischen Höhepunkt.
Wirklich glänzen konnte erneut Verena Mackenberg mit „Das bin ich“ aus Die Päpstin – ein Gänsehautmoment, getragen von Intensität, Klarheit und innerer Ruhe. Karolin Konert ließ später mit „Never Enough“ (The Greatest Showman) noch einmal aufhorchen: makellos gesungen, mitreißend, glaubwürdig. Diese Auftritte gaben dem Abend jenen emotionalen Kern, den man sich häufiger gewünscht hätte.
Deutlich weniger inspiriert präsentierte sich Jan Ammann, der zwar mit viel Bühnenroutine agierte, dabei jedoch überraschend distanziert blieb. Ohne ein eigenes Solo außerhalb des großen Finalblocks wirkte sein Auftritt beinahe beiläufig – insbesondere im Kontrast zur Präsenz seiner Kolleg:innen. „Bring Him Home“ aus Les Misérables im Quintett war solide, konnte jedoch emotional nicht ganz durchdringen.
Ein weiterer Schwachpunkt des Abends war das Disney-Medley. Trotz der Verwendung bewährter Publikumslieblinge wie „Draußen“, „Beauty and the Beast“, „A Whole New World“, „Go the Distance“ und „Ich lass los“ mochte sich keine wirkliche Magie entfalten. Die Übergänge wirkten stellenweise bemüht, und durch die enge Aneinanderreihung ging den einzelnen Songs ihre emotionale Strahlkraft verloren. Was als nostalgisches Highlight gedacht war, blieb letztlich ein wohlklingendes, aber beliebiges Arrangement ohne bleibenden Eindruck.
Dennoch gab es auch stille Höhepunkte: Lina Kropfs Interpretation von „Gabriellas Lied“ aus dem schwedischen Film Wie im Himmel war schlicht, ehrlich und bewegend. Obwohl kein klassischer Musicaltitel, entfaltete das Lied in ihrer Darbietung eine stille Kraft, die sich unmittelbar auf das Publikum übertrug. Ursprünglich von Helen Sjöholm in der schwedischen Originalfassung geprägt – ein ergreifender Moment des Films – bleibt das Lied ein Paradebeispiel dafür, wie Musik, getragen von echter Hingabe, weit über den Kontext hinaus wirken kann. Kropf gelang es, diesen emotionalen Kern auf bemerkenswerte Weise einzufangen.

Thomas Hohler überzeugte vor allem in der Rolle des Mozart mit „Ich bin Musik“ – kraftvoll, mitreißend, theatralisch. Sein späterer Auftritt als Falco mit „Coming Home“ zeigte eine andere Facette seines Könnens: stilsicher und mit charismatischer Bühnenpräsenz. Hohler brachte den ikonischen Pop-Appeal des Wiener Exzentrikers authentisch auf die Bühne und sorgte für einen stimmungsvollen Farbtupfer im Programm.
Ein durchgehender Kritikpunkt bleibt das uneinheitliche Konzept. Zwar sprach Seibert davon, ein Panorama der deutschsprachigen und österreichischen Musicalbühnen zu zeigen, doch wurden viele aktuelle Produktionen ausgespart – und die Auswahl blieb teils beliebig. Ob es wirklich eine weitere Variante des „Phantom der Oper“-Titelsongs braucht, ist mehr als diskutabel.
Auch „& Julia“ schaffte es trotz moderner Popästhetik nicht, das Publikum spürbar mitzureißen. „Man in the Mirror“ aus dem MJ-Musical zündete allenfalls im Refrain. Die wiederholte Verwendung von Popnummern spiegelte ein generelles Ungleichgewicht im Programm wider – beim nächsten Mal dürfte der Fokus gerne wieder stärker auf echten Musical-Highlights liegen, um der Vielfalt und Tiefe des Genres noch mehr Raum zu geben.
Das Finale setzte ganz auf die Zugkraft von The Greatest Showman – in einem opulent gestalteten Schlussblock wurden nahezu alle Hits der Filmmusical-Sensation in Form eines Mini-Musicals aneinandergereiht. Das wirkte stellenweise zwar fast ein wenig überladen, entfaltete jedoch durch die energiegeladene Inszenierung seine mitreißende Wirkung. Besonders Karolin Kronert überzeugte erneut mit einer glasklaren, emotional intensiven Interpretation von Never Enough, während Esther-Larissa Lach mit This Is Me kraftvoll und selbstbewusst das Publikum abholte. Ein Abschluss, der durchaus Lust machte auf die angekündigte neue Bühnenproduktion des Musicals in Großbritannien.
„This is the Greatest Show“ bietet zweifellos viele großartige Stimmen, berührende Momente und musikalische Höhepunkte. Die Band spielte auf höchstem Niveau, das Ensemble ist stark besetzt und einige Darbietungen bleiben nachhaltig im Gedächtnis.
Gesanglich brillierten vor allem Karolin Konert und Verena Mackenberg, deren Auftritte zu den Höhepunkten des Abends zählten – auch wenn man sich an manchen Stellen mehr Eigenständigkeit und weniger stilistische Kopie gewünscht hätte. Die Songauswahl folgte dem bewährten Muster: viel Bekanntes, wenig Neues, kaum Überraschung – das Programm wirkte mehr kuratiert als konzipiert. Einige Nummern rührten, andere rauschten vorbei – so entstand ein Abend, der zwar solide unterhält, aber wenig Risiko wagt. Wer auf musikalische Vielfalt, feine Interpretation und emotionale Tiefe hofft, bekommt einzelne Glanzlichter, aber kein Gesamtkonzept, das nachhaltig beeindruckt. Die Ankündigung, einen Einblick in die deutschsprachigen Musicalbühnen geben zu wollen, bleibt in der Auswahl der Stücke vage und unvollständig – wichtige Produktionen fehlen, während andere mehrfach zitiert werden. Auch mutigere Repertoire-Entscheidungen oder unbekanntere Stücke hätten dem Abend gutgetan – es fehlte der künstlerische Wagemut, über Bekanntes hinauszugehen (Show-Konzept: Andreas Luketa). Dass ein bedeutender Komponist wie Stephen Sondheim im gesamten Programm keinerlei Berücksichtigung fand, ist zweifellos bedauerlich. Gerade seine Werke – komplex, tiefgründig und musikalisch anspruchsvoll – hätten eine spannende Kontrastfolie zu den eher populären Showstoppern des Abends geboten. Hier wurde die Chance verpasst, einem breiteren Publikum die Vielschichtigkeit und künstlerische Tiefe des modernen Musiktheaters näherzubringen. Ein gut platzierter Sondheim-Titel hätte dem Programm nicht nur mehr dramaturgische Balance verliehen, sondern auch musikalisch neue Facetten eröffnet.
Die Tour kehrt am 8. Mai 2026 erneut in die Meistersingerhalle Nürnberg zurück mit einem neuen Programm – ein klares Zeichen dafür, dass das Format beim Publikum Anklang findet. Mit etwas Feinschliff am Repertoire und einem noch mutigeren Blick auf weniger bekannte Musicalperlen könnte sich die Show beim nächsten Mal zu einem musikalischen Highlight mit noch mehr Profil entwickeln. Das Potenzial dafür ist eindeutig da.



Review: YERMA
Schaubühne Berlin


von Marcel Eckerlein-Konrath
Wenn ein Theaterabend dich wortlos zurücklässt, nicht weil er dir nichts zu sagen hätte, sondern weil er alles gesagt hat – dann war es wahrscheinlich Simon Stone. Und wenn Caroline Peters auf der Bühne steht, dann geht es nicht mehr nur um Schauspiel, dann wird Theater zum unmittelbaren Leben. Mit Yerma in der Berliner Schaubühne treffen zwei künstlerische Schwergewichte aufeinander, die keine halben Sachen machen – und sie liefern einen Abend, der in seiner Wucht, Präzision und Emotionalität kaum zu übertreffen ist.
Simon Stone hat sich für seine Version von Federico García Lorcas Yerma von der ursprünglichen poetischen Sprache verabschiedet und sie durch einen Text ersetzt, der klingt wie aus dem echten Leben. Es wird geschrien, geflucht, geliebt, zerbrochen – so unmittelbar, so präzise und so klug gebaut, dass jeder Satz sitzt. Was wirkt wie ein roher Strom von Emotionen, ist in Wahrheit messerscharf komponiert. Kein Wort ist zufällig, kein Moment beliebig. Stone dirigiert den Text wie ein Musikstück, mit rhythmischer Genauigkeit und dramaturgischem Gespür.
Das Bühnenbild – eine voll verglaste Box, wie schon in der Originalproduktion im Londoner Young Vic – ist mehr als nur Kulisse. Es ist ein Gefängnis aus Transparenz, eine Art psychologisches Terrarium, in dem wir das langsame Zerschellen einer Frau beobachten können. Diese Ästhetik kennt man von Stone – aber selten war sie so zwingend und so erschütternd. In der Schaubühne wird aus einer Geschichte über unerfüllten Kinderwunsch ein psychologischer Hochdruckraum, der unter der Glasglocke der Bühne unaufhaltsam zur Explosion kommt. Was 2016 im Londoner Young Vic schon wie ein Paukenschlag wirkte, erreicht in Berlin eine neue emotionale Tiefe – getragen von einem Ensemble, das in dieser Präzision und Geschlossenheit nur selten zu erleben ist.
Im Zentrum dieser Implosion: Caroline Peters. Es ist ein Erlebnis, sie zu sehen. Ihre Darstellung der von ungestilltem Kinderwunsch zerfressenen Frau ist von einer solchen Unmittelbarkeit, dass man meint, sie würde ihre Sätze in diesem Moment erfinden. Sie spielt nicht – sie ist. Jeder Blick, jede Pause, jedes Zittern ist bewusst gesetzt und trotzdem durch und durch lebendig. Peters zeigt eine Figur, die gleichzeitig stark und verletzlich, wütend und verloren ist. Dass sie als vielleicht beste Schauspielerin des Landes gilt, bestätigt sich hier in jeder Sekunde.
Aber was wäre ein Zentrum ohne ein starkes Umfeld? Christoph Gawenda als John, der Partner, liefert eine ruhige, sensible, fast stoische Gegenfigur – ein Mann, der mit dem Leiden seiner Frau ringt, aber irgendwann nicht mehr mitkommt. Gawenda gelingt es, die Hilflosigkeit nicht als Schwäche, sondern als Tragik zu zeigen.
Jenny König als Mary balanciert wunderbar zwischen Nähe und Entfremdung. Ihre Figur ist nicht bloß Kontrast, sondern verkörpert die Normalität, die Yerma immer weiter entgleitet. König spielt das mit feinem Gespür, ohne Überzeichnung, ohne Urteil.
Konrad Singer als Victor bringt Wärme in die Geschichte. Sein Auftauchen wirkt wie ein Echo aus einer anderen Zeit, vielleicht einer anderen Möglichkeit. Singer verleiht dem scheinbar Nebenläufigen Gewicht – sein Spiel hallt nach.
Ilse Ritter, eine Legende der Bühne, gibt der Mutter eine stille, fast zynische Würde. Ihre Präsenz ist ein Ruhepol – klug, trocken, mit dieser unnachahmlichen Mischung aus Strenge und Traurigkeit. Sie bringt Generationenunterschiede zum Klingen, ohne je belehrend zu sein.
Carolin Haupt als Des bringt Tempo, Witz und eine leuchtende Direktheit in die Szenen. Ihre Figur wirkt wie ein Seismograph des Umfelds, eine Freundin, die nicht alles versteht, aber alles sieht. Haupt fängt das mit großer Leichtigkeit ein – ein gelungener Kontrapunkt zur immer düsterer werdenden Hauptfigur.
So trägt das gesamte Ensemble dazu bei, dass die Welt von Yerma real und glaubwürdig wirkt. Keine Figur bleibt Randnotiz, jede hat Gewicht, Tiefe, Geschichte.
Simon Stone führt Regie mit der Präzision eines Chirurgen und der Emotionalität eines Dramatikers, der weiß, dass Schmerz nicht nur weh tut, sondern auch Wahrheit offenlegt. Seine Handschrift ist klar: radikale Gegenwart, emotionales Risiko, kompromisslose Bilder. Was bleibt, ist ein Theaterabend, der verstört, bewegt, nicht loslässt – und der lange nachwirkt. Seine Inszenierung ist dicht, schnell, präzise. Jeder Schnitt, jede Lichtveränderung, jede Pause ist bewusst gesetzt.
Lizzie Clachan hat eine Bühne entworfen, die gleichzeitig kalt und intim ist. Die gläserne Box ist nicht nur ein Bühnenbild – sie ist ein psychologischer Raum. Was öffentlich wirkt, ist in Wahrheit beklemmend privat. Es ist eine perfekte Übersetzung von Stones Sprache in Raum.
Simon Stone ist kein Regisseur, der sich für den sicheren Weg entscheidet. Seine Arbeit an Yerma ist dafür das beste Beispiel: ein radikaler Zugriff auf ein scheinbar verstaubtes Stück, das er von Grund auf neu denkt – mit einer Klarheit und Konsequenz, die atemlos macht. Ursprünglich, so erzählt er selbst, hielt er Lorcas Yerma für nicht mehr aufführbar: „Ich dachte: Das ist so ein rückständiges Frauenbild, das kann ich eigentlich nicht verantworten.“
Doch Stone gräbt tiefer. Er erkennt, dass es nicht um eine katholische Frau im ländlichen Spanien der 1930er geht – sondern um ein Thema, das im 21. Jahrhundert fast noch explosiver ist: die gesellschaftliche Kontrolle über weibliche Körper.
„Es gibt diese Bürde, die Frauen tragen. Nicht nur die körperliche Belastung einer Schwangerschaft – sondern auch das soziale Trauma, ständig kommentiert zu werden. So einen Druck gibt es für Männer nicht annähernd, wenn es um ihren Körper geht. Die Körper von Frauen gehören im öffentlichen Diskurs immer noch bis zu einem gewissen Grad den Männern.“
Diese Erkenntnis ist der Motor seiner Inszenierung. Yerma wird bei Stone zu einer Frau von heute – urban, gebildet, erfolgreich, und trotzdem zermalmt zwischen biologischer Uhr, gesellschaftlichen Erwartungen und innerer Leere. Seine Regie schafft Räume, in denen sich diese Spannungen entladen können. Der Glaskasten als Bühne ist nicht bloß eine Idee – er ist ein Denkraum, ein Gefängnis, ein Spiegelkabinett.
Auffällig ist auch Stones ungewöhnliche Probenpraxis. Das Stück entsteht in der direkten Arbeit mit dem Ensemble: „Ich beginne oft mit den Schauspielerinnen zu arbeiten, bevor ich das Stück fertiggeschrieben habe. Ich schreibe während der Proben Szene für Szene, lerne die Figuren über die Darstellerinnen kennen.“
Diese Methode verlangt Mut – und ein tiefes Vertrauen in die Menschen, mit denen er arbeitet. Dass ein Abend wie Yerma dann so geschlossen, so brutal auf den Punkt wirkt, ist genau das Paradox von Stones Regie: Sie ist extrem durchdacht, aber nie verkopft. Technisch brillant und gleichzeitig voller Empathie. Sie zeigt das Theater nicht als Kommentar zur Welt, sondern als Teil davon. Für Stone gilt:
„Ein Stück wie Yerma muss immer im Jetzt stattfinden. Das Jetzt ist nicht die Zeit, in der es geschrieben wurde. Das Jetzt ist immer jetzt.“
Yerma in der Schaubühne ist mehr als nur gutes Theater. Es ist ein Ereignis. Es ist ein seltenes Kunstwerk: emotional, formvollendet, radikal modern und doch ganz nah am Menschen. Es ist eine Inszenierung, die weh tut – und genau deshalb wichtig ist. Ein Abend für die Ewigkeit.




Review: MARTINA HILL CELEBRATES ROBIN HOOD
MIT DEN NÜRNBERGER SYMPHONIKERN


von Marcel Eckerlein-Konrath
Der Sommer 2024 in Deutschland ist eine launige Geliebte. So sträubt sich das Thermometer hartnäckig die 20 Grad Hürde zu nehmen und nicht nur die Vorzüge von erfrischenden Drinks, wohltuenden Sonnenstrahlen oder angenehmer Kleidung zuzulassen, sondern verweigert somit auch die Möglichkeit Open Air Veranstaltungen stattfinden zu lassen. Die Nürnberger Symphoniker laden an diesem wolkigen Samstagabend im Juni zu einer Hybrid Veranstaltung an, die zu einem im Musiksaal, zum anderen im grün ummantelten Serenadenhof stattfinden soll. Zuerst sieht alles trüb und nach Regen aus, weswegen die Veranstaltung vorsorglich komplett in den Saal verlegt wird. Das sich dann später doch noch die Sonne zeigen wird, konnte so natürlich niemand ahnen und schmälert das musikalische Vergnügen nicht. Unter dem Motto U-TURN | das Orchestival präsentieren die Symphoniker unter der Leitung des blendend aufgelegten Maestro Gordon Hamilton zunächst die Ouvertüre zu „Wilhelm Tell“ von Rossini. Rossinis meisterhafte Orchestrierung und sein Talent für dramatische Kontraste machen diese Ouvertüre zu einem Paradebeispiel für seine Kompositionskunst. Er verwendet eine breite Palette an Klangfarben und Dynamiken, die Hamilton und die Symphoniker in einer reichen Vielfalt an musikalischen Ausdrucksformen dem begeisterten Publikum kredenzen. Es folgt ein Stück aus Schostakowitschs phänomenaler 15. Symphonie. Es ist ein bedeutendes Werk, das sowohl musikalisch als auch biografisch eine tiefgründige Aussagekraft besitzt. Geschrieben im Jahr 1971, ist diese Symphonie die letzte des russischen Komponisten und markiert einen Höhepunkt seines Schaffens. Der erste Satz beginnt ungewöhnlich fröhlich und verspielt, mit einem Zitat aus Rossinis „Wilhelm Tell“-Ouvertüre. Diese Leichtigkeit steht im Kontrast zu den oft düsteren und ernsten Themen, die Schostakowitsch in seinen früheren Symphonien behandelt hat. Es gibt jedoch auch dunklere, melancholische Passagen, die die Vielschichtigkeit des Werkes andeuten. Die 15. Symphonie wurde in einer Zeit komponiert, in der Schostakowitsch bereits gesundheitlich stark angeschlagen war. Sie kann als eine Art musikalisches Testament betrachtet werden, in dem der Komponist auf sein Leben und sein Werk zurückblickt. Die Symphonie spiegelt seine komplexe Beziehung zum sowjetischen Regime wider, das ihn sowohl gefördert als auch unterdrückt hat. Das großartige und akustisch exzellente Klangbild, welches die Nürnberger Symphoniker erklingen lassen unterstützt die große emotionaler Tiefe und musikalische Komplexität, die den Hörer auf eine bewegende Reise durch die Gedankenwelt von Schostakowitsch mitnimmt.

Außergewöhnlich wird es dann, wenn Dirigent Gordon Hamilton seine neueste Komposition präsentiert: „Die Welt am Arsch“ – eine Mix aus Orchestersound und Politiker-Sprüchen von Reagan, Trump, Merkel und Kennedy. „Nicht ich habe die Musik geschrieben, sondern die Politiker haben sie mit ihren Reden komponiert.“ Je tiefer man als Zuhörer nun in diese spezielle, ausdrucksstarke Klangwelt eintaucht, desto mehr schenkt man den Worten von Hamilton Glauben. Singt da Ronald Reagan etwas sein „Mr. Gorbachev, tear down this wall!“ Mit einem Stil, der an eine Mischung aus Leornard Bernstein, Phillip Glass und John Williams erinnert, empfiehlt sich Hamilton als exzellenter musikalischer Dichter. „Ich liebe es zu sehen und zu hören, wieOrchester mit und durch meine Kompositionen neue Abenteuer erleben, wenn seltsame, neue Elemente in das Orchester ‚einfallen‘ und es gar ‚überfallen‘. Das schafft ein ganz neues, intensives Gefühl des Spiels, des Austauschs miteinander und lädt vor allem ein jüngeres Publikum ein. Es macht mir Spaß, im Sinne dieser Zusammenarbeit zu komponieren und das möchte ich mit den Musikern und dem Publikum gleichermaßen teilen“, verrät Gordon Hamilton.
Im zweiten Teil des Abends wagen die Musiker etwas nie Gehörtes: Robin Hood, das Schlitzohr vom Sherwood Forest, erlebt als Live-Hörspiel mit Orchester seine Welt-Premiere. Präsentiert wird die Story von niemand Geringeres als Comedy-Star Martina Hill. Nach anfänglicher, leichter Nervosität verzaubert Hill mit ihrem Charme und Esprit den gesamten Zuschauersaal. Auch wenn wir uns nicht im sicher passenderen Ambiente des Serenadenhofs wähnen, der sicher ein vortrefflicher Sherwood Forest Ersatz gewesen wäre, schmälert dies das Vergnügen nicht. Mit Unterstützung des Publikums wird das Rauschen des Waldes kurzerhand im Musiksaal dargestellt, wird aus vollem Herzen der Übeltäter und Rivale von Robin, Sir John ausgebuht oder fachlich versiert die geräuschvolle Bogenspannung beim Turnier simuliert inklusive fränkischen Zielgeräusch. Hill schlüpft mühelos in die unterschiedlichen Rollen von Robin Hood, Little John, Richard Löwenherz oder Maid Marian, die hier als Maid Mandy aus dem Osten auch einem kleinen Kick Ball Change in Gurkenschlamm Maske nicht abgeneigt ist. Mit ihrem brillanten komödiantischem Timing, witzigen Dialekten und feinen Gespür für Situationskomik, reißt Martina Hill das Publikum zu nicht enden wollenden Lachsalven hin und sind ihrem Charme erlegen. Unterstützt wird Hill großartig von den Nürnberger Symphonikern, die den Soundtrack zu Erich Wolfgang Korngolds Komposition für den Film „The Adventures of Robin Hood“ spielen. Korngold war bereits ein etablierter Komponist von Opern und Orchesterwerken, als er von Österreich nach Hollywood emigrierte. Seine Arbeit an dem quietschbunten Technicolor Film, in dem Errol Flynn die Titelrolle spielte, revolutionierte die Filmmusik, indem er symphonische Techniken und orchestrale Farben in den Soundtrack integrierte, die bis dahin in Filmmusiken selten zu hören waren. Korngold gewann 1939 sogar den Oscar für die beste Originalmusik. Das heroische Hauptthema, das Robin Hood repräsentiert, wird kraftvoll und majestätisch, mit markanten Blechbläsern und kräftigen Streichern der Nürnberger Symphoniker untermalt. Hier sitzt jede Note und jeder Ton und bieten mit Hills kongenialer Neuinterpretation eine solch großartige musikalische Hommage, dass man unweigerlich mitgerissen wird. Hill gelingt es, die zeitlose Legende von Robin Hood nicht nur neu zu erzählen, sondern sie mit sehr viel Witz und Passion zu versehen, die lange nachhallt. Ein Abend, der viel Spaß macht und hoffentlich eine zukünftige Fortsetzung findet.
Review: CARMEN
Staatsoper Berlin

von Marcel Eckerlein-Konrath
„In dieser Oper opfert der spanische Sergeant Don José seine militärische Karriere und seinen gesicherten Pensionsanspruch für Carmen, eine Dame […] mit zweifelhaftem Ruf und häufigem Partnerwechsel.“ So beschreibt Loriot trocken und pointiert die Handlung von Carmen, Georges Bizets Meisterwerk – und trifft damit bereits einen entscheidenden Punkt: Diese Oper, uraufgeführt 1875 an der Opéra-Comique in Paris, war ihrer Zeit weit voraus. Und wurde genau deshalb zunächst abgelehnt.
Man muss sich das vorstellen: Eine Hauptfigur, die keine tragische Jungfrau, keine erhabene Adelige oder Opferfigur ist – sondern eine selbstbestimmte, sexuell freie, in jeder Hinsicht unkontrollierbare Frau. Dazu ein Offizier, der nicht etwa heroisch, sondern schwach, getrieben und am Ende mörderisch ist. Und als Kulisse: nicht die höfische Welt, sondern eine Arbeitergesellschaft mit Schmugglern, Fabrikmädchen und Stierkämpfern. Für das Pariser Publikum war das keine Oper – das war Sozialdrama mit Musik. Und Carmen? Ein Skandal. Kein Wunder, dass das Werk bei der Uraufführung auf empörte Ablehnung stieß – und Bizet, ohnehin gesundheitlich angeschlagen, den großen internationalen Erfolg nicht mehr erlebte. Er starb noch im selben Jahr mit nur 36 Jahren. Der weltweite Durchbruch kam erst mit der Wiener Aufführung, in deutscher Sprache – ironischerweise genau dort, wo man sonst eher auf Traditionen pocht.
Dass Carmen heute aus dem Repertoire der Opernhäuser nicht mehr wegzudenken ist, liegt vor allem an der ungeheuren musikalischen Kraft der Komposition. Bizet, der selbst nie einen Fuß nach Spanien setzte, schuf mit einer Mischung aus Originalquellen, spanischen Volksliedmotiven und eigener Fantasie ein so farbenreiches und atmosphärisches Sevilla, dass es bis heute überzeugt. Die Habanera, das Torero-Lied, die Blumenarie – diese Melodien sind längst Teil der kulturellen DNA. Doch Carmen ist weit mehr als ein musikalisches Best-of: Die Oper ist psychologisch präzise, dramaturgisch dicht und gesellschaftlich brisant.

Regisseur Martin Kušej gelingt es in seiner Inszenierung an der Staatsoper Berlin, die vielschichtige Tragik dieses Werks zu entblättern, ohne sie mit Bedeutung zu überladen. Er setzt auf eine klare Linie, verzichtet auf Schnörkel und stellt die Figuren in den Mittelpunkt. Die Bühne von Jens Kilian – stilisiert, reduziert, fast schon schroff – schafft genau den Raum, den die Charaktere brauchen, um zu atmen. Nichts lenkt ab. Alles wirkt konzentriert und gezielt.
Im Zentrum: Gaëlle Arquez. Ihre Carmen ist keine Karikatur der Verführerin, sondern eine kraftvolle, komplexe Figur. Sie verströmt Selbstbewusstsein, Wut, Zärtlichkeit und Stolz – oft gleichzeitig. Ihre Habanera ist nicht nur musikalisch brillant, sondern ein Manifest. Sie singt, als ginge es ums Überleben, nicht um Verführung. Das Publikum dankt es ihr mit minutenlangem Applaus. Stanislas de Barbeyrac als Don José ist ihr kongenialer Gegenspieler – kein Held, sondern ein innerlich zerrissener Mann, dessen „La fleur que tu m’avais jetée“ nicht bloß eine lyrische Erinnerung ist, sondern ein verzweifelter Rückblick auf die eigene moralische Implosion. Zwischen beiden herrscht keine klassische Opernromantik, sondern ein zerstörerisches Machtspiel, das in der letzten Szene folgerichtig eskaliert.
Und dann ist da Pretty Yende als Micaëla. Ihre Auftritte sind von solcher Präsenz, dass sie als eigentliche Heldin des Abends durchgeht. Sie singt makellos, mit Tiefe und Eleganz, ohne je ins Sentimentale abzurutschen. Ihr „Je dis que rien ne m’épouvante“ ist kein Gebet aus Naivität, sondern aus Mut.

Lucio Gallo gibt einen kraftvollen Escamillo mit klarer Linie und charismatischem Timbre. Serena Sáenz (Mercédès) und Maria Hegele (Frasquita) liefern nicht nur stimmlich ein starkes Doppel, sondern bringen Leichtigkeit in die sonst zunehmend düstere Szenerie. Die Staatskapelle Berlin unter Bertrand de Billy überzeugt durch Präzision und Temperament – rhythmisch durchdrungen, dramaturgisch feinfühlig. Ein Ensemble, das nicht bloß begleitet, sondern erzählt.
Besonders stark: das Verständnis für die Struktur der Oper. Etwa im sogenannten „Duett“, das keines ist – die Szene zwischen Carmen und Don José im vierten Akt, bei dem sich Melodie und Machtposition ständig verschieben. Carmen singt, José unterbricht. Sie tanzt, er verliert die Kontrolle. Musikalisch wird der Konflikt greifbar – nicht als Effekt, sondern als Konsequenz.
Carmen ist keine Oper, die mit moralischer Klarheit endet. Kein Happy End. Kein Märchen. Es ist eine Tragödie, in der Freiheit, Stolz und Leidenschaft nicht romantisiert, sondern seziert werden. Kušej macht das nicht plakativ – sondern konsequent. Und genau das überzeugt.
Auch fast 150 Jahre nach der Uraufführung bleibt Carmen ein Werk von beklemmender Aktualität: Eine Oper über Besitzansprüche, über toxische Männlichkeit, über eine Frau, die lieber stirbt, als sich vereinnahmen zu lassen. Und über Musik, die uns zeigt, wie intensiv und lebendig Oper sein kann – wenn man ihr erlaubt, zu atmen. Das Publikum der Staatsoper Berlin hat das gespürt. Und entsprechend gejubelt.
Review: DIE NACHT DER MUSICALS
Tour Meistersingerhalle Nürnberg

von Marcel Eckerlein-Konrath
Ich habe da diese eine Freundin. Wenn ich bei ihr im Auto sitze, bin ich in einem Dauerzustand kontrollierter Panik. Sie fährt, als gäbe es keine Verkehrsregeln, keine anderen Verkehrsteilnehmer – und keine Gnade. Tempo 50 ist bei ihr nur eine grobe Empfehlung, rechts vor links ein optionales Gesellschaftsspiel. Und immer, wirklich immer, hat sie Vorfahrt. Es ist ein Wunder, dass wir bisher unfallfrei geblieben sind. Mein Nervenkostüm hingegen: Totalschaden mit wirtschaftlichem Totalschaden.
An genau diese Freundin musste ich denken, als ich in „Die Nacht der Musicals“ saß – ein Abend, der sich anfühlte wie ein Auffahrunfall mit Ansage. Ohne Gurt, ohne Airbag, ohne Notausgang. Man wird einfach mitgerissen – allerdings nicht im positiven Sinne. Eher wie in einer Achterbahn, deren Bügel sich nicht richtig schließen. Man klammert sich ans Sitzpolster, während das Ensemble gnadenlos durch die Welt des Musiktheaters rast, ohne Rücksicht auf Verluste, Logik oder Geschmack.
Gleich zu Begin wird die Frage gelöst, was wirklich mit Baby Jane geschah. Die spielt nämlich jetzt Musical und mimt auf Michelle Williams in „Greatest Showman“ mit weißer Schminke und gefühlt 40 Jahre zu alt für die Partie. Was bei Bette Davis im Film „What ever happend to Baby Jane” noch gewollt unheimlich aussah, verkommt hier zur sterilisierten Farce des Grauens. Warum sich Merle Saskia Krammer berufen fühlte im Operettengesang wie eine debil schauende Aufziehpuppe auf Valium durch die Gegend zu staksen, kann wahrscheinlich nur der nicht namentlich genannte Regisseur beantworten. Im Verlauf des Abends wird Krammer die Zuschauer u.a. noch als Elisabeth, Christine und Janet beglücken, wobei das ein Verb ist was ihre Gesangskünste nicht annährend und gebührend ausdrückt . Es ist der identische Effekt, den Fingernägel auf einer Schultafel verursachen oder der geißelnde durchdringende Bohrer beim Zahnarzt: So oder so weiß jeder sofort: das ist nicht angenehm und nicht wohlklingend.
Und so wird es tatsächlich ein langes Programm. Nicht falsch verstehen, wo bekommt man an einem Abend schon die Möglichkeit Ausschnitte aus „Tanz der Vampire“, „Rocky“, „Wicked“, „Die Eiskönigin“ und „We Will Rock You“ zu erleben? Da es aber eine ganze Flut an best of Musical Galas gibt die querfeldein durch deutschsprachige Hallen touren, sei hier ausdrücklich erwähnt was Qualität, Finesse und technische Umsetzung betrifft rangiert „Die Nacht des Musicals“ eindeutig auf den hinteren Plätzen. Alles an diesem angestaubten Programm wirkt lieblos zusammengeschustert, die Kostüme sind billige Überbleibsel vom Grabbeltisch der Resterampe und die Zusammenstellung der Stücke wirkt manchmal fragwürdig, oft uninspiriert und häufig schmerzvoll.
Ich habe Fragen! Warum werden Ausschnitte aus der Netflix Serie „Haus des Geldes“, ein Ed Sheeran Popsong und „Vivo per lei“ von Andrea Bocelli verwurstet und was haben sie bei einem best of Musical zu suchen? Hätte es dazu mäßig inspirierte Tanzeinlangen gebraucht? Ich sage nein! Wäre es bei der „Greatest Showman“ Sektion verzichtbar gewesen einem der Darsteller Schuhe an die Knie zu binden, so dass dieser als kleinwüchsig herhalten muss? Und warum kommt die komplette Musik als Halbplayback vom Band. Warum muss ein Off-Sprecher extra drauf hinweisen, dass sämtliche Interpret*innen live singen? Warum singt Alessandro Frick den Judas aus „Jesus Christ Superstar“ so als hätte er ADHS und zusätzlich Koks in seinem Frühstückskaffee? Warum wird Carolin Rossow wenig charmant angekündigt mit „Letztes Jahr spielte sie im Paderborner Weihnachtszirkus“? Fragen über Fragen! Warum war Bruno Grassini zwar First Cast in der Wiener „Elisabeth“ Produktion von Harry Kupfer, singt aber keinen einzigen Song aus der Show? Und warum wird der Fremdschämfaktor bis auf Anschlag gedreht, wenn Alessandro Frick als Frank’n’Furter völlig überdreht und spaßbefreit das Publikum mit peinlichen Stöhnlauten belästigt?
„Die Nacht der Musicals“ ist eben das Paradebeispiel eines Auffahrunfalls: absolut vermeidbar, überflüssig, sehr schmerzvoll und es können Personen (aka das Publikum) zu Schaden kommen. Ich denke beim nächsten Mal steige ich nicht zu meiner Freundin ins Auto, sondern nehme lieber die öffentlichen Verkehrsmittel oder setze mich selber an Steuer und achte bei meiner Fahrweise vor allem darauf umsichtig und defensiv unterwegs zu sein. Über „Die Nacht der Musicals“ hingegen hülle ich den Schleier des Vergessens.
Review: KLEINER MANN WAS NUN?
Markgrafentheater Erlangen


von Marcel Eckerlein-Konrath
Eine Fernbedienung ist ein kleines Wunder der modernen Bequemlichkeit. Mit einem Knopfdruck entscheiden wir, was uns unterhält, was wir ausblenden und wann wir genau den Sender wechseln wollen. Und genau darin liegt auch das Dilemma: Der ständige Zugriff auf Alternativen hat uns ungeduldig gemacht. Komplexe Inhalte, die Aufmerksamkeit verlangen, überfordern viele – oder werden schlichtweg weggezappt. Theater hingegen zwingt zur Präsenz, zur Auseinandersetzung. Zwei Stunden Konzentration auf ein Thema, ohne Skip-Button, ohne Pause. Es ist vielleicht gerade deshalb das ehrlichste Medium, das wir haben.
Einen Stoff wie Hans Falladas Kleiner Mann, was nun? für die Bühne zu adaptieren, ist eine große Verantwortung. Fallada, der mit seinem 1932 erschienenen Roman das kleinbürgerliche Lebensgefühl am Ende der Weimarer Republik sezierend genau einfängt, war kein Schönschreiber. Er war Realist – aber einer mit Empathie. Seine Figuren sind keine Karikaturen, sondern Menschen, die sich gegen einen unerbittlich gewordenen Alltag stemmen: wirtschaftlich, emotional, moralisch. Fallada selbst wusste, wovon er schrieb – Armut, Abhängigkeit, Absturz und Aufstieg durchzogen sein eigenes Leben. Das macht seine Texte so unmittelbar.
Doch was Regisseur Thomas Kruppa am Markgrafentheater Erlangen aus diesem Stück gemacht hat, ist keine Annäherung, kein Dialog, kein Deutungsangebot – es ist ein künstlerischer Schiffbruch.
Die Bühne zeigt einen Spielplatz, der wie ein pädagogisches Konzept aussieht, das keiner verstanden hat: Sägespäne statt Sand, ein Klettergerüst als zentrales Bühnenbild, auf dem sich die sieben Schauspieler zwei endlos lange Stunden hindurch mühen, klettern, rutschen, zappeln. Dahinter flackern computergenerierte Bilder – mal Häuser, mal Wörter, mal Diagramme – als hätte jemand ein Schulprojekt mit PowerPoint und nostalgischer Commodore-Grafik auf die große Bühne gezogen. Weder die Motive noch deren Rhythmus ergeben dramaturgisch irgendeinen Sinn.
Die Textfassung (nach Sibylle Bachung und Michael Thalheimer) wird von einem Chor kommentiert, der jegliche Nuance menschlicher Emotion niederwalzt. Keine Zwischentöne, kein Raum für Subtext. Stattdessen: monotone Reihungen von Stichworten, agitatorisch vorgetragen, wie ein mechanisches Aufsagen eines Slogans. Das ist nicht politisch, das ist pädagogisch im schlechtesten Sinne. Die Kraft von Falladas Sprache, ihre lakonische Klarheit, ihre feine Psychologie – sie kommt in dieser Inszenierung nicht vor. Und das ist mehr als nur ein verpasster Moment. Es ist eine komplette Verfehlung.

Dabei wäre das Thema so aktuell: Leistungsdruck, ökonomischer Absturz, die Zerreißprobe junger Familien, das Gefühl, in einer Welt nicht zu genügen, die Menschen nach Produktivität bewertet – das alles steckt in Falladas Text. Der berühmte Satz „Nur nicht arbeitslos werden!“ klingt heute wie damals. Und doch scheitert diese Inszenierung daran, diese Relevanz in ein sinnlich erfahrbares Theatererlebnis zu übersetzen.
Einige Darsteller versuchen, dem Konzept noch Leben einzuhauchen: Johannes Rebers spielt einen nuancierten Pinneberg, dem man die innere Zerrissenheit abnimmt. Alina Valerie Weinert gelingt es in Momenten, Lämmchens Wärme und Tragik durchscheinen zu lassen. Doch beide werden von der Regie in einem Korsett gehalten, das keine Entwicklung zulässt. Alles bleibt Behauptung, kein Moment darf atmen.
Dass der Abend trotz seines ambitionierten Materials so blutleer bleibt, ist tragisch. Falladas Kleiner Mann ist eine Chronik des prekären Lebens, eine Studie über den Stolz der Ohnmächtigen. Die Romanvorlage lässt uns die Wucht eines Systemversagens spüren – auf Augenhöhe mit Menschen, die nichts wollen als ein halbwegs anständiges Leben. Von all dem bleibt hier nichts übrig.
Stattdessen: künstlicher Lärm, Ideenlosigkeit und visuelle Zumutungen. Kein Rhythmus, keine Dramaturgie, kein Bogen. Nur zähe Behauptung und inszenatorischer Größenwahn.
Es ist, als würde man eine Folge Babylon Berlin schauen – aber ohne Talent, ohne Spannung, ohne Sinn. Nur mit Sägespänen. Man fragt sich irgendwann: Wäre Wegzappen jetzt eine Option? Oder zumindest ein Notausgang?
Fallada lässt Pinneberg im Roman sagen: „Der Arbeiter kriegt sein gutes Essen nicht, und ich krieg mein Theater nicht – es ist alles die gleiche Wichse.“ Bitter, wie treffend das hier klingt. Nur dass einem beim Lesen dieser Zeile mehr Empathie bleibt als nach diesem überfrachteten, überkonzipierten Abend.
