Review: TITANIC (Theater Erfurt)

von Marcel Eckerlein-Konrath

1985 wurde das Wrack der RMS Titanic etwa 370 Meilen (600 km) südsüdöstlich vor der Küste Neufundlands in einer Tiefe von rund 12.500 Fuß im Atlantik entdeckt. Für den Komponisten Maury Yeston war dies der Auslöser, sich intensiver mit dem Schicksal der Titanic auseinanderzusetzen. Yeston, der mit Musicals wie Nine und Grand Hotel vor allem Kritiker begeisterte, entschied sich für eine klassisch inspirierte Herangehensweise an die Musik seines Stücks.

„Ich wusste, dass ich eine ähnliche Klangfarbe finden musste wie bei den großen Komponisten jener Zeit – etwa Elgar oder Vaughan Williams. Für mich war das eine Gelegenheit, ein Element der symphonischen Tradition ins Musiktheater zu bringen, das wir vorher in dieser Form nicht hatten. Das war sehr aufregend“, so Yeston über seinen kompositorischen Ansatz.

Das Musical wurde für fünf Tony Awards nominiert – und gewann sie alle, darunter auch die Auszeichnungen für das beste Musical und die beste Originalkomposition. Mit insgesamt 804 Vorstellungen konnte sich die Produktion am Broadway beachtlich behaupten.

Nach zahlreichen internationalen Produktionen entschied sich das Theater Erfurt, Titanic für die Spielzeit 2023/24 auf den Spielplan zu setzen – ein ambitioniertes und mutiges Vorhaben. Was Erfurt hier auf die Bühne bringt, ist beeindruckend – nicht nur aufgrund der Größe des Ensembles. Neben einem starken Cast, der überwiegend aus Gästen besteht, überzeugt insbesondere der gewaltige Opernchor (Choreinstudierung: Markus Baisch) in der klugen und detailreichen Inszenierung von Stephan Witzlinger.

Schon mit den ersten Tönen der Ouvertüre wird klar: Der eigentliche Star des Abends ist das philharmonische Orchester unter der exquisiten Leitung von Clemens Fieguth. Die Entscheidung, die Musiker sichtbar auf der Bühne zu platzieren – als integralen Bestandteil des Schiffs – ist ein Geniestreich. Das Orchester wird so nicht nur musikalisch, sondern auch szenisch zum Herzstück der Produktion und fügt sich elegant in das Bühnenbild von Lena Scheerer ein.

Scheerer gelingt es mit wenigen, aber wirkungsvollen Mitteln, den Luxusdampfer zum Leben zu erwecken. Besonders im letzten Akt, beim dramatischen Untergang der Titanic, entfaltet ihre Ausstattung eine beeindruckende Wucht. Hier entstehen große Theatermomente, die im Gedächtnis bleiben und noch lange nachwirken.

 

„Titanic“ legt den Fokus vor allem auf historische Figuren wie Kapitän Smith, souverän gespielt von Martin Sommerlatte, und Schiffskonstrukteur Thomas Andrews (eindringlich: Dennis Weissert). Da ist zum Beispiel der hoffnungsvolle, naive Heizer Frederic Barrett, überzeugend verkörpert von Daniel Eckert, und die junge Kate McGowan (gut: Johanna Spanzel), die ihr Glück in Amerika finden will.

Auch wenn Autor Peter Stone bemüht ist, die Vielfalt der Menschen an Bord und ihre unterschiedlichen Hintergründe sichtbar zu machen, wirkt die Handlung stellenweise zu episodenhaft. Vor allem einige Dialoge (in der deutschen Übersetzung von Wolfgang Adenberg) klingen mitunter hölzern und konstruiert.

Das Musical verfolgt die Ereignisse vor, während und nach dem Untergang der Titanic – in Sachen Emotionalität gelingt das mal mehr, mal weniger überzeugend. Zu bruchstückhaft werden die Geschichten der Charaktere aus den drei sozialen Klassen – darunter Passagiere, Crewmitglieder und Offiziere – präsentiert. Zwar liegt der Fokus auf den individuellen Lebenswegen, Hoffnungen und Träumen, doch die Tiefe bleibt oft an der Oberfläche hängen.

 

Ein Beispiel: Das Ehepaar Beane reist als Passagiere der dritten Klasse. Alice, großartig gespielt und gesungen von Katja Bildt, träumt davon, zur ersten Klasse zu gehören, und klammert sich an diese Illusion mit kindlicher Inbrunst. Ihr Ehemann Edgar hingegen, wenig überzeugend und merkwürdig deplatziert von Benjamin Ebeling dargestellt, versucht sie immer wieder zurück in die Realität zu holen – als gehöre er eigentlich in ein anderes Stück.

Als Passagiere der ersten Klasse beeindrucken Kerstin Ibald und Martin Berger als Isidor und Ida Straus: Ihre Darstellung ist herzzerreißend rührend, ihr Duett „Wie vor aller Zeit“ zählt zu den emotionalen Höhepunkten der Inszenierung – still, anrührend und nachhaltig bewegend.

 

Mit „Titanic“ gelingt Regisseur Stephan Witzlinger und seinem glänzenden Team eine beeindruckende Gesamtleistung (Choreografie: Kerstin Ried), wäre da nicht ein ganz unwesentlich wichtiger Faktor für ein Musical, der hier etwas unangenehm aufstößt: die Musik. Die Komposition von Yeston bewegt sich häufig zwischen Oper und Symphonie und ist zwar durchaus schöpferisch wertvoll, mitunter aber schwer antizipierbar. Mit Ausnahme der Eröffnungsnummer, die beeindruckend inszenatorisch und musikalisch gelingt, gibt es kaum Songs die ins Ohr gehen. Yeston versucht mit seiner Musik emotionale Resonanz zu erzeugen, verliert sich aber zu häufig darin. Die Idee mit seiner Komposition die Handlung voranzutreiben und die Erzählung zu unterstützen, gelingt ihm oft nur grobflächig, denn zu sperrig und verklausuliert geraten die teilweise atonalen Melodien. Intervallsprünge und unkonventionelle Klangfarben gestalten es häufig schwierig seiner Musik zu folgen, wirken schon beinahe avantgardistisch und erinnern an Werke von Arnold Schönberg oder Alban Berg.

Sehenswert ist das Stück am Theater Erfurt aber allemal und das liegt vor allem an der fantastischen Symbiose aus Orchester, Regie, Bühne, Licht (Florian Hahn) und Ensemble. Diese „Titanic“ ist definitiv nicht dem Untergang geweiht, sondern ein astreiner Hit!

alle Fotos von Lutz Edelhoff

Review: SOMETHING ROTTEN! (English Theatre Frankfurt)

von Marcel Eckerlein-Konrath

„What the hell are musicals?! „It appears to be a play where the dialogue stops and the plot is conveyed through song.“ Klingt doch nach einer vortrefflichen Idee. Gut seien wir ehrlich, Menschen die sich gegenseitig ansingen, in musikalische Monologe abdriften oder eine Eleven o‘ clock belten, sind vollkommen unrealistische Utopien. Gleichzeitig sind Musicals nicht nur ein Garant für volle Häuser, sondern machen viel Spaß, berühren und entführen in andere Welten. Wir befinden uns bei „Something Rotten!“ in der Renaissance „with poets, painters, and bon vivants and merry minstrels who strolled the streets of London.“ Es ist die Zeit von Dürer und Michelangelo, Dante Alighieris Göttlicher Komödie, der Venus von Botticelli und der Blütezeit von William Shakespeare.

„Welcome to the Renaissance!“

So spielt die die Handlung von „Something Rotten!“ im London des 16. Jahrhunderts und dreht sich um die zwei rivalisierenden Brüder, Nick und Nigel Bottom, die versuchen, endlich einen Hit für das Theater zu schreiben. Dabei geraten sie in Konkurrenz mit dem Rockstar-ähnlichen Shakespeare (Matt Beveridge), der im Stückeschreiben wesentlich erfolgreicher ist als die beiden Brüder. Wobei sich Shakespeare teilweise etwas unorthodoxer Methoden bedient um an sein Ziel zu kommen. In ihrer Verzweiflung wenden sie sich an einen Wahrsager, der ihnen prophezeit, dass die Zukunft des Theaters im Musical liegt. Dies bringt sie auf die Idee, das allererste Musical zu schreiben.

Mit „Something Rotten!“ sicherte sich das English Theatre Frankfurt, die deutsche Uraufführung in des für 10 Tony Awards nominierten Musicals aus der Feder der Brüder Karey und Wayne Kirkpatrick. Was das großartig auftrumpfende Ensemble unter der Regie von Ewan Jones in der deutschen Premiere der Show auf die Bühne (Set und Kostüme: Stewart J. Charlesworth) zaubert ist eine wunderbare, herrlich absurd alberne Farce. Auch wenn das Buch von John O’Farrell und Karey Kirkpatrick stark überzeichnet ist und die Gagdichte gut funktioniert, werden die Charakter nie der Lächerlichkeit preisgegeben und sind mehr als bloße funktionierende Schablonen. Greg Miller Burns ist als Nick mit einem guten Gespür für comic timing gesegnet, singt fantastisch und stattet seine Figur aber mit ebenso viel Tiefe wie Herz aus. Als sein Bruder Nigel steht ihm mit Sami Kedar ein ebenbürtiger Partner zur Seite, der genussvoll sämtliche Nuancen auf seiner künstlerischen Partitur spielt. Mit dem waschechten Showstopper „It’s A Musical“ gelingt Tom Watson als Nostradamus eine echte tour-de-force performance. In dem Song, in dem sämtliche Musicals von „Les Miserables“, „Rent“, „Chicago“, „The Music Man“, „Seussical“, „South Pacific“, „Evita“, „Annie“ über „Guys & Dolls“, „A Chorus Line“, „Sweet Charity“, „Hello Dolly“, „Cats“ und „Sweeney Todd“ rezitiert werden, gehört zu den vielen Highlights des Abends. Hier stimmt einfach alles und insbesondere für Musical Liebhaber*innen ist sowohl der Song, wie auch die gesamte Show ein süffisant, nerdiges Vergnügen. Die Kirkpatrick Brüder spielen dabei mit gängigen Klischees („Wait, so an actor is saying his lines and then, out of nowhere, he just starts singing?“) und hinterfragen dabei scharf: „It’s absurd. Who on Earth is going to sit there while an actor breaks into song? What possible thought could the audience think other than ‚this is horribly wrong‘?“ Dabei ist die Herangehensweise der Autoren und Komponisten immer liebevoll überspitzt und dabei beißend witzig. Auch aktuelle Bezüge werden immer wieder augenzwinkernd eingeflochten. Selbstverständlich wird das Patriarchat dabei konsequent auf die Schippe genommen. Hierarchische Geschlechterstrukturen werden grandios ad absurdum geführt, wenn Nigels Frau Bea (großartig und stimmstark: Rachael Archer) ihrem Gatten offeriert „Think of me as your sidekick, helping you whenever I can. I’m more than just a woman. When the pressure’s coming, let me be your right-hand man.“ Als Running gag taucht Bea dann immer wieder in männlichen Rollen auf, da sie beweisen will, dass Frauen ohne Frage fähig sind, Männerjobs auszuführen. Bea, eine klare Anspielung auf die scharfzüngige und emanzipierte Beatrice in „Much Ado About Nothing“ reiht sich in die Namen vieler Protagonist*innen ein, die aus Shakespeare Stücken adaptiert wurden. So verliebt sich Nigel in die, von Briana Kelly quirlig gespielte Portia („The Merchant of Venice“) Jonathan Norman ist als Investor Shylock („The Merchant of Venice“) zu sehen und der Nachname der Brüder Button bezieht sich ohne Zweifel auf eine der denkwürdigsten Figuren Shakespeares in „A Midsummer Night’s Dream“. Die Parallelen zum Shakespeare Gesamtwerk werden immer wieder humorvoll eingewoben und garantieren für einen genussvoll amüsanten Abend („Bottom’s Gonna Be on Top“).

Mit viel Charme und Drive schafft es Regisseur Ewan Jones, der auch gleichzeitig für die Choreografie verantwortlich zeichnet das Maximum aus seinem Ensemble herauszuholen. Dazu eigenen sich die Kompositionen (Musical Director: Mal Hall) auch hervorragend, denn die bieten alles was ein gutes Musical baucht: echte Showstopper („It’s A Musical“ und „Welcome to the Renaissance“), dramatisch anmutende Balladen („I Love The Way“) und steppende Ensemblenummern („We See The Light“). „What could be more amazing than a musical? With song and dance and sweet romance.“

Aber noch einmal zurück zum multitalentierten Ensemble, denn die müssen an dieser Stelle alle unbedingt und ausdrücklich namentlich genannt werden: Bradley Adams, Bethany Amber-Wilde, William Beckerleg, Estelle Denison-French, Liam Huband, Jonathan Norman, Chris Tarsey und Myles Waby leisten großartiges. Oft bleiben ihnen nur wenige, hauchdünne Sekunden für Kostümwechsel, dabei spielen und singen alle mit solcher Passion, Hingabe und Präsenz ihre unterschiedlichen und zahlreichen Rollen, dass es eine wahre Freude ist, diese überschäumende Spielfreude mitverfolgen zu dürfen.

Dem English Theatre gelingt mit „Something Rotten!“ ein waschechter Hit, von dem man sich erhofft, das er zukünftig den Weg auf viele weitere deutsche Bühnen finden wird. „Take it from me they’ll be flocking to see your star-lit, won’t quit big hit, musical“ und das wünscht man dem English Theatre für die Weitsicht dieses Stück endlich nach Deutschland zu bringen, von Herzen.

alle Fotos von Martin Kaufhold

Review: THE PRODUCERS (Musikalische Komödie Leipzig)

von Marcel Eckerlein-Konrath

Broadway Flops gehören zum Great White Way In New York ebenso dazu, wie die gigantischen Erfolge. Nur sind Flops Szenarien, die jeder Broadway und Musical Produzent tunlichst vermeiden möchte. Eine Horror Nouvelle von Stephen King als abendfüllendes Musical? Gute Idee? Dass dachten sich zumindest die damaligen Produzenten, mussten jedoch nach dem Horror der auf der Bühne stattfand, gleichzeitig mit den horrenden, vernichtenden Kritiken umgehen und das Stück musste nach nur 5 Vorstellungen schließen. 8 Millionen Dollar waren so auf einmal komplett in den Sand gesetzt und „Carrie“ ging als einer der größten Flops in die Broadway Geschichte ein. Jedoch, könnte man damit nicht sogar mehr Profit machen als mit einem Erfolg? Der Ansicht sind zumindest Max Bialystock, ein windiger, aber zuletzt glückloser Theaterproduzent und sein neurotisch-verklemmter Buchhalter Leo Bloom. Sie haben den scheinbar perfekten Plan. Sie wollen die schlechteste Show aller Zeiten auf die Bühne bringen und einen vorprogrammierten Flop landen. Mit dem schauderhaften Machwerk „Frühling für Hitler“, verfasst von Franz Liebkind, einem vertrottelten Altnazi, glauben sie, das schlechteste Stück aller Zeiten gefunden zu haben. Als Regisseur engagieren sie den aufgeblasenen, aber gänzlich unbegabten Roger de Bris und sein offensichtlich talentloses Team.

alle Fotos Kirsten Nijhof

 

Bialystock und Bloom sind siegessicher – das wird die unmöglichste Show, die der Broadway je gesehen hat, so unerträglich peinlich und geschmacklos, dass die Zuschauer noch vor dem letzten Vorhang das Theater verlassen werden. Zu einer zweiten Vorstellung soll es gar nicht erst kommen. Doch die beiden Produzenten haben die Rechnung ohne das Publikum gemacht: Ihre Show wird als geniale Farce verstanden und gerät zu einem gefeierten Hit. Damit stehen Bialystock und Bloom vor handfesten Problemen…

„The Producers“ aus der Feder von Comedy Titan Mel Brooks ist bereits selbst längst Broadway Legende geworden. Das Stück gewann stolze 12 Tony Awards und lief über 2.500 Vorstellungen. Die Melodien gehen direkt ins Ohr und reihen Ohrwurm an Ohrwurm. „The King Of Broadway“, „I Wanna Be A Producer“, „Keep It Gay“ oder „Springtime For Hitler“ sind nur einige von Brooks denkwürdigen Kreationen. Das Musical kam damals zur rechten Zeit, war die Uraufführung doch im 9/11 Jahr, in der das Publikum nach dieser fürchterlichen Tragödie nach leichter Unterhaltung gierte. Den Kopf abzuschalten und kurzerhand alles um einen herum zu vergessen, gelingt in diesen Zeiten, in denen wir uns befinden nur bedingt. In einer kriegsgeprägten Ära, in der eine rechtsradikale, homophobe Partei Höchststimmen erzielt und in der braunes Gedankengut verbreitet wird, hält die Inszenierung von Dominik Wilgenbus an der Musikalischen Komödie Leipzig den Finger in die Wunde. Das gelingt dem Regisseur allerdings vortrefflich. Auch wenn sicher der ein oder andere Gag etwas plakativ und überstrapaziert wirkt, ist seine Interpretation von Brooks Show erstaunlich aktuell und erschreckend zeitkritisch. Dass bei allen aktuellen, politischen Eskalationen die Stimmung nicht kippt, ist Wilgenbus sehr zu Gute zu erhalten. Er findet eine gute Balance aus hemmungsloser, alberner Komik und sozialkritischen Tönen. Auf dieser Partitur spielt sein glänzend auftrumpfendes Ensemble fast durchgehend hervorragend. Nur hier und da sind ein paar Dissonanzen zu vernehmen.

Nick Körber kann als Leo Bloom leider nicht überzeugen. Er hatte vor der Premiere das obligatorische break a leg / Hals und Beinbruch etwas zu wörtlich genommen und seinen großen Zeh gebrochen. In den Tanzszenen wird er so kongenial mit geschmeidiger Leichtigkeit von Tänzer Pietro Pelleri vertreten. Auch wenn es Körber anzurechnen ist, dass er das Showbusiness Mantra „the Show must go on“ sehr ernst nimmt, kann er schauspielerisch wie gesanglich der Figur des Leo nicht genügend Überzeugung einhauchen. Seine Panikattacken im Stück sind wenig glaubhaft, sein Spiel zu forciert und unglaubwürdig. Besonders im direkten vergleich zu seinem Bühnenpartner Patrick Rohbeck fällt er deutlich ab.

Als Max Bialystock ist Rohbeck nämlich all dass, was die Rolle des schleimigen, nach Erfolg gierenden Produzenten ausmacht: schauspielerisch auf den Punkt, mit einem guten Gespür für Komik, gepaart mit einer solider Stimme. Besonders seine Nummer „Verrat“ im zweiten Akt, gehört zu seinen glänzenden Highlights. Rohbeck ist eine Idealbesetzung als Max. Echtes Broadway Feeling bringt Olivia Delauré als Ulla auf die Leipziger Bühne. Als Triple Threat kann sie gesanglich, schauspielerisch und vor allem tänzerisch überzeugen. In der Choreo von Mirko Mahr (Step-Choreographie Illia Bukharov) gibt Delauré buchstäblich alles und landet mit ihrer herrlich schwedisch säuselnden Interpretation der Ulla einen absoluten Volltreffer. Franz Liebkind wird von Michael Raschle zwar als hohler, aber auch gefährlicher Alt Nazi dargestellt. Mit seinen Auftritten hat er alle Lacher auf seiner Seite und hat dazu mit seinen Tauben noch eine mit sehr „speziellem“ Namen im Verschlag beherbergt. Dem larger than life Regisseur Roger deBris gibt Andreas Rainer Gesicht und Stimme. Zwischen Slapstick, gnadenloser Komik und guten gesanglichen Qualitäten ist Rainer als Hitler eine echte Wucht und löst beim Premierenpublikum wahre Beifallsstürme aus. Darf man über Hitler lachen? Die Antwort ist eindeutig: auf jeden Fall, wenn er so großartig überspitzt, zum Brüllen komisch und knallhart der Lächerlichkeit preisgegeben wird, wie hier. Jeffery Krueger ist eine herrliche doppelzüngige Carmen Ghia und erstaunliche nahe an Originalübersetzung Roger Bart. Angela Mehling lässt als Grabsch-mich-tatsch-mich keine Wünsche übrig und begeistert gleich in mehreren Rollen. Jedoch wirkt der Chor der Musikalischen Komödie etwas hölzern und kann es hier nicht ganz mit einem Musicalensemble aufnehmen. So sind einige Interaktionen nicht immer poliert pointiert und lassen etwas Agilität vermissen.Das Bühnenbild von Peter Engel ist doch etwas sehr karg und rudimentär geraten. Das Büro von Max sieht eher aus wie eine Spelunke in Harlem und Roger de Bris hat lediglich ein Sofa in Kussform zur Verfügung. Auch wenn das dem vergnüglichen Abend keinen Abbruch verschafft, hätte man hier oder da doch etwas phantasievoll ausladender arbeiten dürfen und monetär investieren können. Die Kostüme von Uschi Haug sind stückdeckend passend designt und interpretiert und können vor allem bei der Nummer „Frühling für Hitler“ visuell imponieren.

Unter der musikalischen Leitung von Michael Nündel könnte das Orchester der Musikalischen Komödie manchmal etwas mehr Drive und Tempo vertragen, sorgt aber für einen souveränen Gesamteindruck. Regisseur Dominik Wilgenbus macht mit seinen klugen politischen Einfällen vieles richtig, manchmal fehlt es allerdings an Timing und Drive. Einige Anschlüsse wirken etwas behäbig und schleppend. Die deutsche Übersetzung von Nina Schneider funktioniert gut, auch wenn natürlich einige Originalwitze unübersetzbar sind, macht Schneider einen sehr guten Job. „The Producers“ ist in Leipzig ein überaus gelungener Abend mit marginalen Abstrichen, der vor allem wegen dem viel zu selten gespielten Stück lohnt. Leipzig zeigt hier wieder einmal den Mut, auch selten gespielten Shows eine Chance zu geben.

Max und Leo hätte es sicher nicht gefreut, aber diese Show ist ein Hit!

Review: TOOTSIE (Staatstheater am Gärtnerplatz, München)

von Marcel Eckerlein-Konrath

„Ein neues Musical zur Uraufführung zu bringen, ist wie Kinder bekommen: nicht jeder sollte eins haben“ sagt Bettina Mönch in der Rolle der Julie im Musical „Tootsie“. Wenn das stimmt, dann sind die Eltern im vorliegenden Fallbeispiel äußerst zufriedene, denn dieses Kind erfreut sich bester Gesundheit und Agilität. „Tootsie“ kann als Musical in der europäischen Uraufführung am Theater am Gärtnerplatz überzeugen. Die Geschichte von Michael Dorsey, der als Schauspieler keine Anstellung findet und kurzerhand in Frauenkleider schlüpft, um als Dorothy Michaels Karriere zu machen, wurde von Sidney Pollack 1982 erfolgreich mit Dustin Hoffman und Jessica Lange verfilmt. Hoffman wurde für einen Oscar nominiert und Lange bekam ihren erster Oscar als beste Nebendarstellerin. Gut 45 Jahre später gelang am Broadway der Musicaladaption ein Achtungserfolg, die Auszeichnung mit 2 Tony Awards und eine Show, die seitdem erfolgreich durch die Staaten tourt. Einiges grundliegendes hat sich seit den 80ern (zum Glück) geändert und so entstand ein neues Buch von Robert Horn und damit eine zeitgemäße, genderfluid Adaption des Stoffes. Auch wenn „Tootsie“ als Film nichts von seinem Charme eingebüßt hat und Dustin Hoffman ein sehr Sensibles, fernab von Hollywood Klischees geprägtes, sehr differenziertes Portrait liefert, ist der Film doch etwas in die Jahre gekommen und teilweise nicht gut gealtert.

Dass in der Inszenierung von Regie- und Musical Veteran Gil Mehmert, alles frisch, mitunter aber auch eine gewisse Antiquiertheit spürbar ist, macht vielleicht auch den Reiz der Produktion aus. Es gibt sehr viel zu lachen und viele schöne Ideen, die Mehmert phantasievoll umsetzt und geschickt einflechtet. Ein Highlight ist dabei eine entworfene Utopie in der Dorothy der Star gleich mehrerer weiblicher Musicalrollen in diversen Produktionen ist. Es ist also ein äußerst stimmiges Gesamtpaket was das Theater am Gärtnerplatz auf die Bretter schickt. Die einzige Frage die sich mir stellt, ist tatsächlich nur, ob das Stück als Schauspiel nicht noch besser funktioniert hätte? Die Songs sind alle ok bis gut, aber eine richtig zündende musikalische Nummer gibt es nicht und ein Ohrwurm, mit dem man das Theater verlässt bleibt leider aus. Es gibt die obligatorischen Betroffenheit- und Erkenntnissongs, gepaart mit repetitiven Ensembletracks und Pattern-Nummern, doch nichts davon bleibt dauerhaft und klingt zu austauschbar. Auf meine persönliche Musical Spotify Liste, würde ich keine der Songs hinzufügen. Komponist David Yazebeck bedient sich hier stellenweise etwas bei seinem Musical „Dirty Rotten Scoundrels“, doch da gab es mehr Nummern die nachhaltig überzeugen konnten. Bezeichnenderweise gewann „Tootsie“ zwar einen Tony Award für das beste Buch, ging aber im Musikapartment komplett leer aus. Eine in vielerlei Hinsicht nachvollziehbare Entscheidung. Tatsächlich hatte ich sogar eher die Songs „Tootsie“ und „It Might BeYou“ von Stephen Bishop aus dem Film im Kopf. Dass das Musical dennoch so hervorragend funktioniert, ist vor allem der grandiosen Besetzung und dem guten Buch zu verdanken.

Allen voran Armin Kahl als Michael / Dorothy der so gut wie durchgängig auf der Bühne ist und rasant überzeugend in den Geschlechterrollen wechselt. Das beherrscht Kahl auf großartige Weise mit viel Charme, Fleiß und Esprit. Als Ekel Regisseur mit Wedelesken Locken brilliert Alexander Franzen, während Julia Sturzlbaum als Sandy zum heimlichen Publikumsliebling avanciert. Gunnar Frietsch gibt herrlich nonchalant und deftig den Mitbewohner Jeff, während Dagmar Hellberg als kodderschnauzige Produzentin Rita alle Register zieht. Bettina Mönch ist als Julie wieder einmal sehr wandlungsfähig, charmant und berührend in ihrer Interpretation. Dabei gibt sie auch stimmgewaltig Einblicke in das Seelenleben einer Schauspielerin und welchen Kampf Frauen im Showbusiness immer noch dem Patriarchat ausgesetzt sind. Im Film wird Dorothy in einer Telenovlea als neue Hauptrolle besetzt, in der Bühnenadaption spielt sie die Amme in einer Fortsetzung von „Romeo und Julia“. Was im Film so hervorragend funktioniert und von Dustin Hoffman so exzellent gespielt wird, überträgt sich auf die Bühne zwar auch noch sehr amüsant, ist aber nicht ganz so zum Schreien witzig und grotesk wie im Film. Der alternde, lüsterne Soap Opera Schauspieler John Van Horn, wurde für die Bühne mit dem (fast) talentfreien Reality Star Max van Horn (stimmgewaltig: Daniel Gutmann) ausgetauscht, was gut funktioniert. So wird Dorothy auch als etwas ältere Schauspielerin von einem jüngeren Kollegen begehrt und verehrt: eine willkommene Loslösung von bestehenden Klischees und Vorurteilen. Die Musicaladaption bietet etwas, was mitunter Mangelware auf deutschen Stadttheaterbühnen ist: eine exzellente Inszenierung und die Möglichkeit für gut zwei Stunden den eigenen Alltag komplett auszublenden. So kann „Tootsie“ mit marginalen Abstrichen überzeugen und ist ein Musical mit viel Witz, einem großen Herzen und guter Laune Garantie. „Go Tootsie. Go!“

Review: ROCK OF AGES (Tour) Meistersingerhalle Nürnberg

von Marcel Eckerlein-Konrath

 

“We’re not gonna take it / No, we ain’t gonna take it / We’re not gonna take it anymore / We’ve got the right to choose, and / There ain’t no way we’ll lose it / This is our life, this is our song / We’ll fight the powers that be, just / Don’t pick on our destiny, cause / You don’t know us, you don’t belong.”

Dieser Song könnte exemplarisch für den übersättigten Markt und übermäßigen Konsum der Compilation Musicals stehen. Hinter diesem Begriff verbergen sich Musicals, die aus einer Zusammenstellung oder einer Auswahl verschiedener Songs bestehen, basierend meistens aus bereits vorhandenen Musikstücken bekannter Künstler*innen oder Bands. Von richtig gut („And Juliet“), über mäßig („Mamma Mia“) bis katastrophal („Bat auf Of Hell“) reicht hier die Palette. Mit „Rock Of Ages“ kommt nun eins dieser Compilation Musicals auf Tour nach Deutschland, welches den Fokus auf die Musik der 80er und den Classic Rock legt. Dass die Musik zeitlos ist und nach wie vor Spaß macht steht für jeden außer Frage, und auch wenn die Songs überzeugen, so kann es dieses Musical bedauerlicherweise nicht. Allein dieses Wrack als Musical zu bezeichnen entbehrt jeder Logik und kommt einer Blasphemie gleich.

Mit der wohl belanglostesten Story, den unwitzigsten Dialogen und schlechtesten Klischees schafft „Rock Of Ages“ es mühelos den Inhalt einer Telenovela oder der Gebrauchsanweisung gegen Vomitus zu unterbieten. Die Dialoge sind uninspirierte, unterirdisch schlechte Versuche den Hauch einer Handlung rund um die Songs der 80er zu stricken. Das was als Hommage gedacht ist gerät zu einer frivolen Demütigung. Die „Geschichte“ von „Rock of Ages“ spielt in Los Angeles und dreht sich um das Schicksal des Rock’n’Roll Clubs „The Bourbon Room“. Dort treffen verschiedene Charaktere aufeinander, darunter der aufstrebende Rockstar Drew und die angehende Schauspielerin Sherrie. Die beiden verlieben sich ineinander und versuchen, ihre Träume in der Musikindustrie zu verwirklichen. So weit so uninteressant. Die Autoren probieren aus diesem dürftigen Konstrukt eine, ihrer Meinung nach, Parodie des Sujet Musicals zu basteln. Eine Parodie lässt sich allerdings für mich nicht erkennen, es ist eher ein Faustschlag ins Gesicht und eine Beleidigung für jeden der Musicals liebt oder auch nur ansatzweise mag.

Die „Gags“ bedienen sich sämtlicher Klischees, machen sich lustig über Homosexualität, sind rassistisch und chauvinistisch. Deswegen klage ich getreu dem Song von Twisted Sister an und rufe frei heraus: „We’re not gonna take it anymore!” Schluss damit aus jedem Auffahrunfall ein Musical zu zimmern. Liebe Autor*innen, wenn ihr nichts zu erzählen habt dann lasst es doch bitte direkt bleiben und verschwendet nicht die kostbare Zeit, das Geld und die Geduld eures Publikums. Denn schon Anton Tschechow wusste: „An der miserablen Qualität unserer Theater ist nicht das Publikum schuld.“ Wer diese Gags lustig findet, lacht wahrscheinlich auch über Verstopfungen und hält Richterin Barbara Salesch für intellektuelle Fernsehkunst. Ich habe schon Besuche beim Zahnarzt erlebt die lustiger waren und würde mich freiwillig einer Wurzelbehandlung unterziehen als mir Rock Of Ages noch einmal anschauen zu müssen. Nicht dass wir uns falsch verstehen. Ich finde es auch toll mich auf leicht bekömmliche Unterhaltung einzulassen und abzuschalten, ich möchte als Zuschauer allerdings nicht an der Nase herumgeführt werden. Von den Darstellern ist einzig die großartige Amanda Whitford zu nennen, die stimmlich so richtig rocken und punkten kann und die der einzige Lichtblick dieser traurigen Produktion bleibt. Kevin Thiel spielt als Lonny so sehr auf Witz, dass es schon fast körperliche Schmerzen auslöst. Wenn er unumwunden zugibt diese Show sei keine Andrew Lloyd Sondheim Show ist das ein kläglicher Versuch einen Hauch von Ironie in dieses Opus des Grauens zu hauchen. Und irgendwo auf einer Wolke sitzt Sondheim und vergießt bittere Tränen für diesen Affront. Die fünfköpfige Live Band versucht ihr Bestes aus den Songs das maximale heraus zu kitzeln, ist aber leider aufgrund des dürftigen Sounddesigns häufig übersteuert und übertönt die Darsteller weitestgehend.

Rock-Hymnen der 80er, wie „Here I Go Again“ von Whitesnake, „The Final Countdown“ von Europe, „Can’t Fight This Feeling“ von Reo Speedwagon, „I Want To Know What Love Is“ von Foreigner sind einige der Songs die Nostalgie heraufbeschwören sollen, es aber nicht so richtig transportieren können. Richtig gut klingt das tatsächlich dann, wenn das gesamte Ensemble gemeinsam singt. Einige der Songs wie z.B. „We Built This City“ werden allerdings nur als Rezitative verwendet und erklingen leider nicht in voller Länge. Dies ist insofern enttäuschend, dass selbst die Songs so verstümmelt werden um sie der nicht vorhandenen Handlung zum Fraß vorzuwerfen. Felix Freund als Drew schreit sich unangenehm durch die Show, während Julia Tschler als Sherrie mit einigen Tönen meilenweit daneben liegt. Die Sparte Schauspiel scheint bei der lieblosen Inszenierung von Alex Balga und Natalie Holtom, überhaupt keine Rolle zu spielen und ist damit non-existent und ausgeklammert. Das was die Akteure bieten kommt über das Niveau „Amateurtheatergruppe“ nie hinaus. Die Bühne ist statisch und verändert sich im Laufe des Abends nur marginal. Dies ist allerdings auch von keiner großer Bedeutung, da „Rock Of Ages“ auch mit einem aufwändigeren Bühnenbild nicht an Tiefe und Substanz gewönnen hätte. Wer hier seine Erfüllung findet, dem sei es gegönnt und ist mit diesem Autocrash einer Show bestens bedient. Für alle anderen die meinen „We’re not gonna take it anymore“ sei hier eine 80er Jahre Party oder ein Konzert Tribute ans Herz gelegt. „Oh, you’re so condescending / Your call is never ending / We don’t want nothin‘, not a thing from you / Your life is trite and jaded / Boring and confiscated /If that’s your best, your best won’t do.”

Review: SCHOLL - DIE KNOSPE DER WEISSEN ROSE (Stadttheater Fürth)

von Marcel Eckerlein-Konrath

Die Geschichte rund um die Geschwister Sophie und Hans Scholl ist eine tragische und wurde bereits in Opern, Theaterstücken und Filmen erfolgreich adaptiert. „Die weiße Rose“ war die Widerstandsgruppe in der die Geschwister mit anderen jungen Student*innen aktiv waren und die sich gegen die nationalsozialistische Regierung und ihre Ideologie des Rassismus und Antisemitismus wandten. Sophie und Hans Scholl spielten eine wichtige Rolle bei der Verbreitung von Flugblättern und anderen Materialien, die den Nationalsozialismus und den Krieg kritisierten. Sie wurden im Februar 1943 von der Gestapo verhaftet, nachdem sie Flugblätter an der Universität von München verteilt hatten. Sophie und Hans wurden zum Tode verurteilt und am 22. Februar 1943 hingerichtet. In dem Musical von Thomas Borchert und Titus Hoffmann wird nun die Geschichte vor dem Zusammenschluss der weißen Rose beleuchtet, der titelgebenden Knospe, dem Ursprung der Bewegung. Tirol, 1941/42: Die Geschwister Hans, Sophie und Inge Scholl verbringen zusammen mit ihren Freund*innen Traute, Ulla und Freddy den Jahreswechsel in der einsam gelegenen Coburger Hütte in den Tiroler Bergen. Politisch und weltanschaulich sind diese jungen Erwachsenen sehr unterschiedlich – sie eint aber ein breites literarisches Interesse und das Bedürfnis nach einer Auszeit von Reichsarbeitsdienst und Fronteinsatz im nationalsozialistischen Kriegsdeutschland. Sie vertreiben sich die Zeit mit Skifahren und lesen gemeinsam (politisch verbotene) Werke der Weltliteratur. Inge hat – wie immer – alles im Griff, Sophie freut sich auf ihr bevorstehendes Studium, und Traute hofft auf eine Wiederbelebung ihrer Sommerromanze mit Hans. Im letzten Moment zu Hause geblieben ist Hans‘ Freund und Vertrauter Shurik. Was Hans nicht daran hindert, in seinen Gedanken und in Erinnerung in ständigem Zwiegespräch mit Shurik zu stehen. Denn die Notwendigkeit politisch und privat zu seinen Überzeugungen zu stehen, beschäftigt Hans sehr. Denn da gibt es eine versteckte Seite seiner Persönlichkeit, die so gar nicht recht zu dem Wehrmachtssoldaten und Frauenschwarm passen will, den die anderen so gut kennen …

Ein sehr sensibles Thema also, dem sich das Kreativ Team in dieser Uraufführung auf behutsame Art und Weise nähert. Die jugendliche Naivität der Freund*innen kollidiert mit dem Hass und der Ignoranz des Nationalsozialismus in der klaustrophobischen Enge der Skihütte, die hier kongenial von Stephan Prattes schwebenden Holzbalken konstruiert wird. Wie ein Damoklesschwert schweben die Holzbalken über den Protagonist*innen und deuten bereits offensiv, teils versteckt ein Hakenkreuz und drohendes Unheil an: die Katastrophe naht. Doch das gut durchdachte Bühnenbild ist Segen und Fluch zugleich, denn durch das immer gleichbleibende Setting wirkt die Handlung oft sehr statisch und steril.

Bewegung gibt es zwar in Form der Choreografie von Andrea Danae Kingston (und im Song „Am Sonntag kommt zum Kaffeeklatsch..“) doch über die gut 2.5 Stunden ändert sich wenig am Bühnenbild. Das Stück wäre in seinem Kammerspiel und Sensibilität in einem intimeren Rahmen sicherlich besser aufgehoben, als auf der großen Bühne des Stadttheaters Fürth. So wird es schier unmöglich eine mentale, affektive Bindung mit den Figuren herzustellen.

 

Musikalisch gelingt Thomas Borchert in seinem Debüt als Musical Komponist nicht immer der Spagat zwischen Pop, Schlager und Kitsch. Borchert versucht sondheimesk Referenzen an den amerikanischen Komponisten einzustreuen, doch wirken die Melodien austauschbar und generisch. Es gibt wenig Titel die ins Ohr gehen und hängen bleiben. Ausnahme bildet hier „Das Leben ist anderswo“ das von Aufbau und Struktur an „Sincerley, Me“ aus „Dear Evan Hansen“ erinnert und sich mehrere Male innerhalb des Abends wiederholt. Anrührend gelingen die Balladen „Diese Worte bleiben“ und „Schweigen“ jeweils mit den Original Texten von Hans Scholl. Für die restlichen Songs steuert Titus Hoffmann die Texte bei, der auch die Regie übernahm. Das als Hymne gedachte „Widerstand“ ist mitunter unangenehm atonal, während „Gemeinsam“ auch als Schlager durchgehen könnte. „Entartet“ ist ein zwanghafter Versuch auf den Spuren von „Hamilton“ zu wandeln, der aber katastrophal schief geht.

 

Die Besetzung ist durchweg erstklassig und die Darsteller*innen bilden ein homogenes Ensemble, aus dem vor allen Sandra Leitner (mit einer frappierenden Ähnlichkeit zu ihrem historischen Vorbild) als Sophie Scholl und Judith Caspari als Traute herausstehen. Leitner überzeugt stimmlich beim anspruchsvollen „Gott ist fern“ und ist auch schauspielerisch großartig, während Caspari mit „Der Doppelgänger“ punkten und auftrumpfen kann.

Woran liegt es aber, dass die Show emotional nicht überzeugen kann? Der großartigen Besetzung trifft hier keine Schuld, denn die versuchen aus dem vorhandenen Material das maximale herauszuholen. Alexander Auler ist ein empathischer, stimmlich beeindruckender Hans. Dennis Hupka hat als naiver, aber sympathischer Freddy ein paar Lacher auf seiner Seite und Fin Holzwart liefert mit „Propaganda“ ein starkes Solo zu Beginn des zweiten Aktes, welches marginale Erinnerungen an „Kitsch“ aus „Elisabeth“ wachruft. Wunderbar und eine echte Entdeckung ist Karolin Kohnerts eindringliche Darstellung der Inge. Ulla wird überzeugend von Lina Gerlitz gespielt.

Der Zuschauer wird über weite Strecken mit einer wahren Flut an Informationen, Fakten und historischen Ereignissen überfrachtet und alleine zurückgelassen – hier liegt auch das essentielle Problem. Über weite Strecken kommt man sich als Konsument*in vor wie der Schüler, der im Geschichte Leistungskurs mit erhobenem Zeigefinger gemaßregelt wird. Gleich mehrere Male wird betont, dass die „weiße Rose“ als Überschrift der ersten vier Flugblätter der Aktivist*innen diente und nicht als definitiver Name der Gruppe. Zu häufig bleibt man als Zuschauer*in ahnungslos zurück, wenn zu viel Zeitsprünge, Traumsequenzen und zukünftige Ereignisse eingebaut werden, die die Sicht und das Verständnis erheblich schmälern. Ohne etwas Vorbereitung auf die historischen Ereignisse und Hintergründe wird es schwierig dem Stück zu 100% zu folgen. Zu verworren die Zeitsprünge zu Hans und seinem Freund Shurik. Auch die nur zaghaft angedeutete Homosexualität zwischen den beiden Protagonisten bleibt spannungslos und verwirrend. Hier fehlen die dramaturgische Struktur und etwas Feinschliff was auch dazu beiträgt, dass das Stück eindeutig zu lang und etwas schleppend im Tempo geraten ist. Die letzte Sequenz birgt dann aber genau die richtige Dosis an emotionaler Qualität, die während des gesamten Stückes dieser Uraufführung so schmerzlich fehlte.

So gelingen Regisseur Titus Hoffman einige, durchaus originelle Einfälle, die allerdings das zu skizzenhafte Musical als Gesamtwerk zu ausgegoren erscheinen lassen.

„Scholl- Die Knospe der weißen Rose“ kann mit einem überzeugend aufspielenden Ensemble aufwarten, letztendlich fehlt aber der zündende Funke und die treibende Kraft diese Rose zum Erblühen zu bringen.

Review: ROMEO UND JULIA (Theater des Westens, Berlin)

von Marcel Eckerlein-Konrath

Das Theater des Westens ist zweifellos eine der bedeutendsten Bühnen der Hauptstadt – ein Haus, das gleichermaßen für große Namen wie Maria Callas und für generationsprägende Musicals steht. Seit seiner Eröffnung im Jahr 1896 hat es unzählige künstlerische Spuren hinterlassen. Wer diesen Saal betritt, betritt ein Stück lebendige Theatergeschichte: Callas sang hier unter Karajan, Helmut Baumann brachte in den 1980ern „La Cage aux Folles“ mit durchschlagendem Erfolg auf die Bühne. Später folgten Großproduktionen wie „Chicago“, „Tanz der Vampire“ oder „Die drei Musketiere“. Der Ort hat Atmosphäre – ein Prunkbau, der Charme ausstrahlt und dessen Wände Geschichten zu erzählen scheinen. Wer das Theater betritt, spürt sofort, dass hier nicht bloß Shows stattfinden, sondern echte Theaterkunst gepflegt wird.

In diese ehrwürdige Kulisse zieht nun ein neues Stück ein: „Romeo und Julia – Liebe ist alles“ von Peter Plate und Ulf Sommer. Nach dem Erfolg von „Ku’damm 56“ kehren die beiden mit einer Uraufführung zurück. Eine neue Musicalversion von Shakespeares berühmtester Tragödie – das ist eine Ansage. Zumal das Thema bereits so oft variiert, übersetzt, verfilmt und weitergedacht wurde, dass man sich zwangsläufig fragt: Muss das wirklich noch einmal sein? Die Antwort lautet überraschenderweise: ja. Und das aus gutem Grund. In der Regie von Christoph Drewitz entsteht ein knapp dreistündiger Abend, der sich mutig auf einen spannenden Kontrast einlässt: Plate und Sommer lassen die berühmte Schlegel-Übersetzung der Shakespeare-Dialoge im Originalton stehen – elegant, klassisch, poetisch –, während die musikalische Ebene poppig-modern daherkommt. Diese Reibung zwischen Sprachwelten erzeugt Reiz und Energie. Es ist ein gelungener Balanceakt zwischen historischer Würde und popkulturellem Zeitgeist.

Die Songs fügen sich erstaunlich gut in die Handlung ein. Titel wie „Wir sind Verona“, „Es lebe der Tod“ oder „Es tut mir leid“ bleiben im Ohr – manche mit der Wucht von Popsongs, andere mit stiller Emotionalität. Mit „Liebe ist alles“ erklingt sogar ein Rosenstolz-Hit, der überraschend gut in die Dramaturgie integriert ist. „Halt dich an die Reichen“ wiederum wirkt wie ein augenzwinkernder Kommentar zur Gesellschaft und trägt deutlich die Handschrift früher Rosenstolz-Stücke.

Das junge Ensemble bringt frischen Wind auf die Bühne, auch wenn nicht alle durchgängig schauspielerisch überzeugen können. Die gesangliche Leistung ist solide bis stark, aber in den Dialogen fehlt es mancherorts an Tiefe und Natürlichkeit. Besonders im zweiten Akt, der stark textbasiert ist, wünscht man sich manchmal mehr Feinarbeit und emotionale Nuancen. Dennoch: Das Ensemble trägt den Abend mit Energie, Spielfreude und einem hohen Maß an Engagement.

Yasmina Hempel und Paul Csitkovics verkörpern das titelgebende Liebespaar glaubwürdig – auch wenn gesanglich nicht jede Passage ganz homogen gelingt. Was fehlt, ist stellenweise eine stärkere individuelle Auseinandersetzung mit ihren Figuren und mehr psychologische Klarheit. Umso stärker sind einige Nebenrollen: Joël Zupan als Todesengel ist ein Coup – mit seiner Countertenor-Stimme verleiht er der Figur eine fast übernatürliche Präsenz. Nico Went als Mercutio bringt Sensibilität in eine Rolle, die schnell zur Karikatur verkommen kann. Seine Nummer „Kopf sei still“ ist eindringlich und stark. Philipp Nowicki als Pater Lorenzo überzeugt mit warmer Bühnenpräsenz und klarer Stimme – besonders in „Kein Wort tut so weh wie vorbei“ und dem fast sakralen „Mutter Natur“. Steffi Irmen liefert mit der Amme eine mitreißende, manchmal berührende, manchmal urkomische Performance und wird mit „Will nicht mehr jung sein“ zum Publikumsliebling. Linda Rietdorff als Lady Capulet gibt den perfekt abgestimmten Kontrast: überdreht, selbstbezogen und brillant in ihrer Oberflächlichkeit. Das Bühnenbild bleibt bewusst zurückhaltend, setzt aber gezielt Akzente – etwa mit dem klassischen Balkon, der hier fast zum Symbol gerinnt. Besonders hervorzuheben ist die Choreografie von Jonathan Huor, die mit Präzision, Eleganz und Ausdruckskraft beeindruckt. Seine Handschrift hebt die Inszenierung auf ein deutlich höheres Niveau. 

Tim Deilings Lichtdesign ergänzt das Bild wirkungsvoll – atmosphärisch, sinnlich, punktgenau. Der Epilog „Der Krieg ist aus“ rundet den Abend emotional aufgeladen ab und wartet mit einem effektvollen Schlussmoment auf, der nicht nur dramaturgisch clever, sondern auch atmosphärisch tief berührend ist.

Christoph Drewitz gelingt mit dieser Inszenierung etwas Seltenes: Er schafft eine Brücke zwischen Shakespeare und Pop, zwischen Tradition und Gegenwart, zwischen Kunst und Unterhaltung. „Romeo und Julia – Liebe ist alles“ ist keine bloße Neuerzählung, sondern eine eigenständige Interpretation für das Musiktheater von heute. Dass dabei Anklänge an Musicals wie „Hamilton“, „Spring Awakening“ oder „Elisabeth“ spürbar sind, macht den Abend umso interessanter.

Es ist zu hoffen, dass diese Produktion im Theater des Westens nicht nur das junge Publikum begeistert, sondern auch den Weg für weitere musikalische Experimente dieser Art bereitet. Denn: Wer Shakespeare mit Popmusik kombiniert, braucht Mut, Stilgefühl und – wie in diesem Fall – ein gutes Gespür für Timing.

Und das ist ihnen gelungen.

Review: Ein Amerikaner in Paris, Tour (Stadttheater Fürth)

von Marcel Eckerlein-Konrath

„An was denken Sie, wenn Sie an Paris denken?“ fragt Loïc Damien Schlentz in der Rolle des Adam Hochberg und adressiert dabei direkt das Publikum, noch bevor ein Ton des Krzysztof Klima Festival Orchester, Krakau erklingt. Mit dem Durchbrechen der vierten Wand kommen natürlich die obligatorischen, zu erwartenden Antworten: Eiffelturm und Champs Elysees. Dabei ist Paris soviel mehr als eine Reduzierung auf seine Sehenswürdigkeiten und L’amour. Ich selber habe einige Zeit in der französischen Hauptstadt gelebt und geliebt. Und meine Erinnerungen an die Metropole an der Seine sind durchweg positiv, wenn auch das verklärte, romantisierende Bild der Stadt sich nicht ganz bestätigt je länger man dort wohnt. Allerdings habe ich Paris auch so richtig erst während der Pandemie kennengelernt. Da waren die Möglichkeiten sich in einem größeren Radius zu bewegen extrem marginal und äußerst eingeschränkt.

Aber Paris ist eben auch ein Lebensgefühl: wunderschön, atemberaubend, beklemmend und einschüchternd zugleich. Das Essen ist so großartig wie alle Welt schwärmt, die Sprache melodisch aber voller gemeiner Stolperfallen und wenn die Stadt im Frühling erblüht und erstrahlt ist sie noch wundervoller, attraktiver und einladender denn je. Paris ist Baguette, Confit de canard und Pain au chocolat, Paris ist Marais, Père Lachaise, Parc des Buttes-Chaumont und die Opéra Garnier. Magnolien die sich im Wind bewegen und „wenn Du das Glück hattest […] in Paris zu leben, dann bleibt die Stadt bei Dir, einerlei wohin Du in Deinen Leben noch gehen wirst, denn Paris ist ein Fest fürs Leben.“ wusste schon Ernest Hemingway und ja, er hat vollkommen recht. Ich denke immer gerne an Paris, den Charme und Esprit und die einzigartige Architektur der Stadt zurück. Paris ist eben auch ein Gefühl. Umso enttäuschender ist es, dass bei der Inszenierung von Christopher Tölle sich dieses Gefühl so gar nicht manifestiert.

„Ein Amerikaner in Paris“ spielt im Jahr 1945, wo der angehende amerikanische Maler Jerry dem Charme der Pariserin Lise erliegt. Doch Jerry ist nicht ihr einziger Verehrer. Es gibt da noch den Revuestar Henry Baurel, dem sich Lise verpflichtet fühlt. Für zusätzliche Verwicklungen sorgen Jerrys Freunde, der Komponist Adam Cook, und die ebenso attraktive wie reiche Milo Roberts, eine Amerikanerin mit einem Faible für Künstler. Soweit, so unspektakulär die Handlung wären nicht die wundervollen Melodien von George Gershwin. Die Songs wurden leider ins deutsche übertragen, was der Übersetzung von Kevin Schröder etwas arg schlagerhaftes verleiht. 

 

Das Bühnenbild (Robert Pflanz) der Tournee Produktion besteht im wesentlich aus einer Leinwand, auf die Animationen projiziert werden. Dies sind teilweise sehr verpixelt und von unzureichender Qualität. Immer wieder wird der Eiffelturm in allen nur denkbaren Perspektiven gezeigt, von der Ferne, von unten, von der Seite, von oben. Stellenweise erinnern die Projektionen etwas (mit ganz viel Phantasie) an die Poster von Jules Cheret. Es ist aber eine vertane Chance, dass, wenn man schon auf Projektionen zurückgreift, nicht die Möglichkeit nutzt und den Protagonisten selber „sein“ Paris malen lässt. In fast jeder Szene in der er auftaucht, wird erwähnt wie begabt und talentiert Jerry Mulligan als Maler ist. Bis auf eine kurze Skizze sehen wir allerdings als Zuschauer nichts, was sehr bedauerlich ist. Wenn er doch so toll malen kann, warum dies nicht auch zeigen als nur behaupten? Die Idee die Szenen wie eine Art Filmsequenz im Hintergrund zu zeigen, geht nur teilweise auf, weil dies nie zu Ende gedacht wird und die Inszenierung hindurch nicht konsequent verfolgt wird. Als Jerry ist Andrew Chadwick ein passabler Tänzer und Schauspieler, aber leider mit keiner großen Stimme gesegnet. Sein Zusammenspiel mit Mariana Hidemi als Lise hat keinerlei Chemie und das Liebespaar nehme ich den beiden zu keiner Sekunde ab. Zu haptisch und mechanisch ist ihre Beziehung, zu leidenschaftslos der Tanz. 

Hidemi ist als Lise überall und nirgendwo. Dafür, dass sie eine der Hauptprotagonistinnen ist, macht sie sich recht rar, was natürlich am Original Buch von Craig Lucas liegt. Loïc Damien Schlentz (Adam Hochberg), Tilmann von Blomberg (Henri Baurel) bleiben stimmlich etwas flach und schauspielerisch sehr ausbaufähig. Lichtpunkt ist Kira Primke als Milo Davenport, die aus ihren wenig substanziellen Szenen das Beste macht. Mit guter Stimme und starker Präsenz gehört sie zu den Highlights des Abends. Es gibt storybedingt sehr viele Szenenwechsel, die vom Ensemble oft tänzerisch charmant gelöst und erledigt werden. In der Choreografie von Christopher Tölle und Nigel Watson haben die Tänzer*innen viel zu tun, denn hier wird, wie schon wie im Original Film, ein großes Hauptaugenmerk auf die Bewegung gelegt. „Ein Amerikaner in Paris“ ist eher als Ballett zu verstehen, mit mehr tänzerischen Etüden als Musical Songs. Auch wenn die bekannten Gershwin Hits „I Got Rhythm“, „The Man I Love“, „’S Wonderful“, „They Can’t Take That Away From Me” mit dabei sind, ist der Tanz hier extrem dominierend. So mag auch das Stück nicht jeden Geschmack treffen und daher auch wenig mit dem Sujet Musical gemein haben. Das französische Flair kann diese Inszenierung leider nicht elaborat transportieren. Ein paar Bistrotische oder Beret reichen da nicht aus. Damit schöpft Regisseur Tölle das volle Potential des Stückes nicht aus und versprüht damit nicht mehr als ein laues Sommerlüftchen. Die französische Kultur und Paris insbesondere sind aber noch so viel mehr. Oder wie die Amerikanerin und Autorin MJ Rose schrieb: „Paris riecht nicht nur süß, sondern melancholisch und neugierig, manchmal traurig, aber immer verführerisch. Sie ist eine Stadt für alle Sinne, für Künstler und Autoren und Musiker und Träumer, für Fantasien, lange Spaziergänge, guten Wein, für Verliebte und Geheimnisse.“

Review: CABARET (Theater Dortmund)

von Marcel Eckerlein-Konrath

Es gibt Zeiten, da sitze ich vor einer Rezension und muss in Ermangelung an Quellen erfinderisch werden und tief in die Recherche eintauchen. Dies kann sich auf englischsprachige Texte beziehen, auf eigene Erinnerungen selbst besuchter Vorstellungen oder externe Fach Literatur spezialisieren. Bei einem Musical wie „Cabaret“ ist dies nicht erforderlich. Es gibt soviel Material zum Lesen, anhören und ansehen das einem schwindelig wird. Wo also beginnen? „Let’s start at the very beginning, a very good way to start.“ Ok … das ist nicht aus „Cabaret“, sondern aus „The Sound Of Music“, passt aber in diesem Fall besonders gut.

Meine erste Erfahrung mit „Cabaret“ hatte ich noch vor dem Film mit Liza Minnelli. Denn wie es für einen Theaterliebhaber wie mich vorbestimmt war, fand die erste Berührung und Begegnung mit „Cabaret“ im Theater statt. Michael Wedekind inszenierte das Stück in Aachen mit Ursula Vincent als Sally und Karl Walter Sprungala als Conférencier. Eine Inszenierung die mich in meiner Haltung und Zuneigung zu „Cabaret“ stark geprägt hat und an der sich zwangsläufig jede weitere Produktion messen musste. Auch wenn es schon einige Jahre zurückliegt, sind meine Erinnerungen an diese Produktion immer noch sehr präsent.

Mir und jedem anderen Im Publikum stockte damals der Atem als der Conférencier in der finalen Szene und seiner Reprise von „Willkommen“ mit „Auf Wiedersehen“ und seinem letzten Goodbye in die Gaskammer eines namentlich nicht genannten Konzentrationslager sich für immer verabschiedete. Hier lag nicht nur die große Brisanz, sondern auch die Genialität und Kraft von Wedekinds Inszenierung.

Gerade diese Entscheidung polarisierte, aber genau das muss Theater und auch die Sektion Musical sollte dies nicht ausklammern. Auch wenn Musical manchmal leider immer noch als die leichte Muse belächelt wird.

Doch „Cabaret“ ist so viel mehr als reine Unterhaltung und die großartigen Melodien von John Kander. Es ist nicht nur eine Zeitreise in das Berlin der späten 20er Jahren, sondern eine treffsichere Charakterstudie und zeitgleich eine tiefgründige, zeitgeschichtliche Retrospektive. Vor allem ist „Cabaret“ zutiefst menschlich und emotional vor dem Hintergrund der politischen Instabilität und des sozialen Wandels der Weimarer Republik.

Musical Veteran Gil Mehmert inszeniert „Cabaret“ nun, nach dem Erfolg an der Wiener Volksoper, für die Oper Dortmund. Angesiedelt im Berliner Kit Kat Club folgt das Stück der Beziehung zwischen dem amerikanischen Schriftsteller Cliff Bradshaw (Jörn-Felix Alt) und der britischen Sängerin Sally Bowles (Bettina Mönch).

Während die beiden versuchen, ihre Beziehung aufrechtzuerhalten, verschärft sich die politische Situation in Deutschland und die Nationalsozialisten beginnen, ihre Kontrolle zu festigen. Der Club und seine Künstler*innen werden zunehmend bedroht und diskriminiert wie auch der Conférencier des Kit Kat Clubs (Rob Petzer). Er ist eine schillernde Figur, diabolisch, sarkastisch und der Master of Ceremonies. Auch die Pensionswirtin Fräulein Schneider (Angelika MIlster) und ihr Freund und Nachbar Herr Schultz (Tom Zahner) werden zu Opfern ihrer Zeit.

Obwohl „Cabaret“ in der Vergangenheit eher auf kleineren Bühnen Einzug fand und vom Konzept auch ideal in ein kleines Clubtheater passt, inszeniert Gil Mehmert das Musical nun episch für die große Bühne. Hier kann er opulent und dekadent zeigen und alles aufgefahren was eine aufwendige Inszenierung ausmacht. Die Drehbühne wird hier äußerst effektiv zum Einsatz gebracht und bietet einen Blick in den KitKat Club während auf der Rückseite intime Einblicke in die Pension von Fräulein Schneider preisgegeben werden. Heike Meixner hat hier großartiges geleistet mit ihrem Design. Das gigantisch anmutende Klavier, auf dem der Conférencier die Partitur des Lebens spielt, ist dabei effektiv wie genial erdacht. So bietet die Bühne eine überdimensionale Spielwiese für die Protagonisten. Und was für eine!

Jörn-Felix Alt ist ein starker Cliff. Er ist emotional und zart, dann wieder leidenschaftlich und zurücknehmend. Selten habe ich einen so guten Schauspieler wie Sänger in dieser Rolle gesehen. Eine rundherum großartige Leistung. Bettina Mönch stattet ihre Sally mit einer großen Belt Stimme aus und ihre Hit Songs „Cabaret“ und „Maybe This Time“ sitzen und sorgen daher zu Recht für fulminante Beifallsstürme des Publikums. Ihre Sally liebt und lebt bedingungslos, ist manipulativ, verrucht und herzzerreißend. Der Conférencier von Rob Pelzer führt nicht nur zynisch und provokant durch den Inhalt des Stückes, er ist zu dem lakonischen Begleiter, Beobachter und zeitgleich ein Provokateur sexueller und politischer Anspielungen. Zudem setzt Mehmert ihn auch immer wieder in anderen Momenten des Abends ein. So fungiert er mal als Kontrolleur, mal als Taxifahrer. Er ist zudem ein Symbol für den moralischen Verfall der Gesellschaft und auch die zunehmende Gewalt und Radikalität. Pelzer ist facettenreich, herrlich ironisch, singt und spielt grandios und wickelt so das Publikum sofort um den kleinen Finger. „Do you feel good?“ Doch bei der Replik bleibt einem schnell die Antwort im Halse stecken. Pelzer fungiert in seiner Rolle als Beobachter und Kommentator. Gleichzeitig ist er Teil der Geschichte, fungiert als Verbindungselement zwischen den Szenen und zwischen den Welten. Er durchbricht damit die vierte Wand und spricht das Publikum direkt an. Pelzer gibt seiner Figur ein bedrohliches und berechnendes Kalkül, das ihn unnahbar und zeitgleich sehr zugänglich macht. Sein Charakter bleibt distanziert in seinem Kosmos und ist unberechenbar in seiner Dynamik. Eine exzellente Leistung!

 

Sehr berührend und wunderbar fein inszeniert ist das Kammerspiel von Angelika Milster und Tom Zahner als verliebtes Paar, welches sich leider früher als später der Realität stellen muss. Wie die beiden Schauspieler dies herausarbeiten und so einfühlsam, echt und empathisch darstellen ist ein großer Gewinn für die Produktion und so avancieren die beiden zu den heimlichen Stars des Abends. Milster singt, nicht anders als zu erwarten, hervorragend und Tom Zahner rührt mit seiner nuancierten, intelligenten Darstellung zu Tränen. Überzeugend Samuel Türksoy als schleimiger Ernst Ludwig und wunderbar polternd und berlinernd die Fräulein Kost von Maja Dickmann. In der fulminanten Choreografie von Melissa King tanzen die Kit Kat Boys und Girls („each and everyone a virgin“) virtuos. Die Kostüme von Falk Bauer unterstreichen dazu perfekt die 20er Jahre in Berlin.

Die Songs von Kander und Ebb sind, hier unter dem kraftvollen Dirigat von Damian Omansen, neben den bekannten Hits, kritisch und politisch motiviert. „If You Could See Her With My Eyes“ sticht dabei besonders hervor. Eisige Gänsehaut gibt es zum Finale des ersten Aktes mit “Der morgige Tag ist mein“. Hier wird die Stimmungsmache der Nationalsozialisten besonders schmerzlich deutlich. Mehmert inszeniert dies als einen überdeutlichen, eindringlichen Fingerzeig und Weckruf. Leider ist dieser Teil aktueller denn je.

Als Jens Schmidl „Cabaret“ am Theater Freiburg inszenierte gelang ihm ein ganz spezieller Coup: der Regisseur platzierte vor Beginn jeder Vorstellung Mitglieder des Opernchores im Publikum, die während „Der morgige Tag ist mein“ sukzessive aufstanden und den rechten Arm emporstreckten. Das habe einiges an Überzeugungskraft gekostet, verrät Schmidl in einem Telefonat mit mir. Hatten doch die Sänger*innen Angst vor einer möglichen Attacke der Zuschauer. Ich sah die Produktion während meines Studiums und kann mich noch gut daran erinnern wie schockiert, paralysiert und ungläubig ich aus dem Augenwickel sah, wie mein potentieller „Sitznachbar“ sich erhob. Ja, es war Teil der Inszenierung aber ein Moment, so intensiv und eindringlich, dass ich ihn nie vergessen werde. Schmidl hatte damit den Keim des Bösen freigelegt und eindringlich demonstriert, dass Mitläufer und Anhänger rechtsradikaler Gruppierungen mitten unter uns sind. Niemand kann sicher sein.

Musikalisch hat die Show einiges zu bieten. Neben den bekannten Nummern gehen vor allem „Heirat“, „Don’t Tell Mama“ und „Two Ladies“ ins Ohr. Schön das mit „I Don’t Care Much“, eine Nummer die in der Original Broadway Inszenierung 1966 nicht mit dabei war und 1987 zum ersten Mal eingefügt wurde, mit dabei ist und vom Conférencier gesungen wird. Mehmert schafft es, das intime Kammerspiel von „Cabaret“ kongenial auf die große Bühne zu transportieren. „Cabaret“ ist eine Parabel aus Versuchung, Verführung, Hedonismus und politischen Aspekten, die uns sehr deutlich zeigt wieviel Aktualität das Musical immer noch hat. Mit einem stark aufspielenden, erstklassigen Ensemble ist diese „Cabaret“ Inszenierung eine für die Ewigkeit, so „come to the cabaret“.

Review: WEST SIDE STORY (Tour) Capitol Theater Düsseldorf

von Marcel Eckerlein-Konrath

Lonny Price hat eine lange Vergangenheit mit dem Werk von Stephen Sondheim. Angefangen hat für ihn alles nicht als Regisseur, sondern als Schauspieler in der Hal Prince Inszenierung von „Merrily We Roll Along“. Das Musical das rückwärts erzählt wird, wurde bei seiner Uraufführung zum desaströsen Flop, entwickelte im Laufe der Jahre aber eine treue Schar an Bewunderern und wird Ende 2023 mit Jonathan Groff, Daniel Radcliffe und Lindsay Mendez an den Broadway, nach einer ausverkauften off-Broadway Reihe transferiert. Die Entstehungsgeschichte von „Merrily“ ist auch Thematik der äußerst interessanten und sehr sehenswerten Dokumentation „Best Worst Thing That Ever Could Have Happened“, doch um diese soll es an dieser Stelle nicht gehen. Vielmehr zeichnet Price nun verantwortlich für ein Musical, das mit Superlativen der internationalen Presse nicht spart, die Times schrieb: „No.1 Greatest musical of all time“ und zu dem Sondheim die Lyrics beisteuerte. Sondheim war damals 25 Jahre jung, als er mit seiner Arbeit begann und noch ganz am Anfang seiner Karriere.

Zusammen mit dem großen Leonard Bernstein zu arbeiten war für ihn Ehre und Herausforderung zugleich. Sondheim arbeitete lieber allein, während Bernstein den gemeinsamen kreativen Prozess von Komponisten und Texter bevorzugte. Also fanden beide einen ungewöhnlichen Kompromiss: sie kommunizierten über das Telefon. So fand eine der wohl bedeutendsten Arbeiten der amerikanischen Musicalgeschichte auf recht unkonventionelle Art statt. Die Symbiose der beiden Jahrhundert Künstler resultierte in einem Musical, das Geschichte schrieb. Die kürzliche Neuverfilmung durch Oscar Preisträger Steven Spielberg macht deutlich, wieviel Kraft immer noch in der Musik von Bernstein steckt und wie unsterblich diese ist. Umso erstaunlicher ist es, dass in der neuen Inszenierung von Lonny Price die Show merkwürdig kalt und generisch daherkommt. Alles ist zwar makellos getimt, doch die initiale, emotionale Zündung bleibt aus. Woran liegt es also, dass diese „West Side Story“ nur marginal berührt? An dem exzellenten Dirigat von Grant Sturiale liegt es sicher nicht. Mit ganz viel Drive und Gusto führt der Maestro sein Orchester durch die Partitur Bernsteins: Jazz, lateinamerikanische Elemente und auch klassische Oper erfüllen immer noch ihre Bestimmung und zeigen die formvollendete, tiefe Schönheit und satte Qualität der Musik. Songs wie „Something’s Coming“, „Tonight“ und „Somewhere“ haben auch nach über 60 Jahren nichts von ihrer Strahlkraft eingebüßt. Gesungen und gesprochen wird bei der internationalen Tour auf Englisch. Übertitel gibt es zwar keine, dies dürfte aber aufgrund der Bekannt- und Beliebtheit des Stückes wenig problematisch sein. Überhaupt ist eine Aufführung in der Originalsprache in der Oper, bis auf sehr wenige Ausnahmen, Pflicht. Im Musical wird eine Aufführung in der Originalsprache hierzulande allerdings eher selten gezeigt und auf deutsche Übersetzungen zurückgegriffen. 

Lose basiert das Musical auf Shakespeares „Romeo & Julia“ und spielt im New York der 1950er Jahre. Im Mittelpunkt der Handlung stehen die zwei rivalisierenden Straßengangs, die „Jets“ (weiße Amerikaner) und die „Sharks“ (Puerto-Ricaner) und natürlich Tony und Maria, die sich unsterblich ineinander verlieben und aus den jeweils revoltierenden Gangs kommen. Und wir alle als Zuschauer wissen: diese Verbindung endet tragisch. Als Tony ist Jadon Webster rein optisch eine Idealbesetzung für Tony. Auch wenn seine Singstimme im konträren Gegensatz zu seiner Sprechstimme steht, kann er gesanglich überzeugen, schauspielerisch aber wenig punkten. Zu aufgesetzt und wenig elaboriert ist sein Spiel, als dass es wirklich emotional berührt. Bei ihm sieht man auch gut den Knackpunkt der Inszenierung und die fehlende, mangelnde emotionale Bindung zu den Protagonisten. Ja man fühlt förmlich die Regieanweisungen von Lonny Price. „Geh jetzt hier hin – dann dort hin und verweile hier.“ Das mag zwar grundsolide sein und auch für einige Rezipienten ausreichen, mir war das allerdings zu wenig und zu statisch und vor allem fehlt das Feuer und essentielle Hingabe. Eine wirkliche Haltung und tiefe Diskrepanz fühlt man bei Websters Tony bedauerlicherweise nicht. Michel Vasquez als Maria ist da schon etwas positiver hervorzuheben. Ihr Sopran ist anrührend schön anzuhören und ihr Schauspiel etwas akzentuierter als das ihres Bühnenpartners. Allerdings fehlt ihr die jugendliche Unbekümmertheit und eine richtige Chemie mit Webster ist eher abstinent als richtig spürbar.

Ein Highlight hingegen, in der ohnehin sehr dankbaren Rolle ist tänzerisch, gesanglich und schauspielerisch Kyra Sorce als Anita. Bei ihr spürt man den Drive, die Passion und Hingabe für ihre Rolle. Ihre Anita ist leidenschaftlich, liebt und hasst bedingungslos. Etwas mehr von diesen Attributen hätte auch der gesamten Produktion gutgetan. Etwas blass und unscheinbar ist Anthony Sanchez als Bernardo und hinterlässt damit keinen bleibenden Eindruck. Taylor Harley als Riff spielt rollendeckend. Bemerkenswert präsent ist Anthony J. Gasbarre,III als Action. Hier hätte ich es spannend gefunden, wie er wohl die Rolle des Tony interpretiert hätte (wäre er besetzt worden). In seinen wenigen Szenen ist Gasbarre ein starker und leidenschaftlicher Action, der auch tänzerisch beeindruckt. Guten Support gibt es von Laura Leo Kelly als Anybodys und Christopher Alvarado als Chino.

Tänzerisch bleiben keine Wünsche offen, orientiert sich die Choreo von Julio Monge doch stark an der legendären Original Choreografie von Jerome Robbins. Das bei einer Tourneeproduktion keine Hydraulik und fahrende Bühnenelemente zum Einsatz kommen liegt auf der Hand, doch die teilweise sehr lauten Bühnenumbauten der einzelnen Elemente und Fassaden von Anna Louizos, katapultierte mich als Zuschauer immer mal wieder aus dem Bühnenzauber zurück in die Realität des Theatersaals und meinen Sitz. Dennoch sind die typischen New Yorker Feuertreppen, die auch maßgeblich im Original Artwork der Produktion zu finden sind, gut umgesetzt und erfüllen funktional ihren Zweck. Auch die Häuser als aufklappbare Puppenhäuser zu nutzen, geht (buchstäblich) auf.

Schön und feinfühlig gelingt Price die Traumsequenz zu „Somewhere“: ein starkes Plädoyer für Liebe und eine deutliche, strikte Ablehnung von Rassismus, Homo- und Transphobie und Hass aller Art.

Unterm Strich bleibt und bestätigt mit der neuen Inszenierung dieser „West Side Story“ die Erinnerung daran, wie großartig das Musical immer noch ist und wie elementar wichtig Toleranz, Akzeptanz und Empathie für jeden von uns sind. Der letzte Funke, in dieser Neu-Inszenierung will dann am Ende aber leider nicht überspringen.

Review: Carmen (Staatsoper Berlin)

von Marcel Eckerlein-Konrath

„In dieser Oper opfert der spanische Sergeant Don José seine militärische Karriere und seinen gesicherten Pensionsanspruch für Carmen, eine Dame […] mit zweifelhaftem Ruf und häufigem Partnerwechsel.“ So beschreibt Loriot trocken und pointiert die Handlung von Carmen, Georges Bizets Meisterwerk – und trifft damit bereits einen entscheidenden Punkt: Diese Oper, uraufgeführt 1875 an der Opéra-Comique in Paris, war ihrer Zeit weit voraus. Und wurde genau deshalb zunächst abgelehnt.

Man muss sich das vorstellen: Eine Hauptfigur, die keine tragische Jungfrau, keine erhabene Adelige oder Opferfigur ist – sondern eine selbstbestimmte, sexuell freie, in jeder Hinsicht unkontrollierbare Frau. Dazu ein Offizier, der nicht etwa heroisch, sondern schwach, getrieben und am Ende mörderisch ist. Und als Kulisse: nicht die höfische Welt, sondern eine Arbeitergesellschaft mit Schmugglern, Fabrikmädchen und Stierkämpfern. Für das Pariser Publikum war das keine Oper – das war Sozialdrama mit Musik. Und Carmen? Ein Skandal. Kein Wunder, dass das Werk bei der Uraufführung auf empörte Ablehnung stieß – und Bizet, ohnehin gesundheitlich angeschlagen, den großen internationalen Erfolg nicht mehr erlebte. Er starb noch im selben Jahr mit nur 36 Jahren. Der weltweite Durchbruch kam erst mit der Wiener Aufführung, in deutscher Sprache – ironischerweise genau dort, wo man sonst eher auf Traditionen pocht.

Dass Carmen heute aus dem Repertoire der Opernhäuser nicht mehr wegzudenken ist, liegt vor allem an der ungeheuren musikalischen Kraft der Komposition. Bizet, der selbst nie einen Fuß nach Spanien setzte, schuf mit einer Mischung aus Originalquellen, spanischen Volksliedmotiven und eigener Fantasie ein so farbenreiches und atmosphärisches Sevilla, dass es bis heute überzeugt. Die Habanera, das Torero-Lied, die Blumenarie – diese Melodien sind längst Teil der kulturellen DNA. Doch Carmen ist weit mehr als ein musikalisches Best-of: Die Oper ist psychologisch präzise, dramaturgisch dicht und gesellschaftlich brisant.

Regisseur Martin Kušej gelingt es in seiner Inszenierung an der Staatsoper Berlin, die vielschichtige Tragik dieses Werks zu entblättern, ohne sie mit Bedeutung zu überladen. Er setzt auf eine klare Linie, verzichtet auf Schnörkel und stellt die Figuren in den Mittelpunkt. Die Bühne von Jens Kilian – stilisiert, reduziert, fast schon schroff – schafft genau den Raum, den die Charaktere brauchen, um zu atmen. Nichts lenkt ab. Alles wirkt konzentriert und gezielt.

Im Zentrum: Gaëlle Arquez. Ihre Carmen ist keine Karikatur der Verführerin, sondern eine kraftvolle, komplexe Figur. Sie verströmt Selbstbewusstsein, Wut, Zärtlichkeit und Stolz – oft gleichzeitig. Ihre Habanera ist nicht nur musikalisch brillant, sondern ein Manifest. Sie singt, als ginge es ums Überleben, nicht um Verführung. Das Publikum dankt es ihr mit minutenlangem Applaus. Stanislas de Barbeyrac als Don José ist ihr kongenialer Gegenspieler – kein Held, sondern ein innerlich zerrissener Mann, dessen „La fleur que tu m’avais jetée“ nicht bloß eine lyrische Erinnerung ist, sondern ein verzweifelter Rückblick auf die eigene moralische Implosion. Zwischen beiden herrscht keine klassische Opernromantik, sondern ein zerstörerisches Machtspiel, das in der letzten Szene folgerichtig eskaliert.

Und dann ist da Pretty Yende als Micaëla. Ihre Auftritte sind von solcher Präsenz, dass sie als eigentliche Heldin des Abends durchgeht. Sie singt makellos, mit Tiefe und Eleganz, ohne je ins Sentimentale abzurutschen. Ihr „Je dis que rien ne m’épouvante“ ist kein Gebet aus Naivität, sondern aus Mut.

Lucio Gallo gibt einen kraftvollen Escamillo mit klarer Linie und charismatischem Timbre. Serena Sáenz (Mercédès) und Maria Hegele (Frasquita) liefern nicht nur stimmlich ein starkes Doppel, sondern bringen Leichtigkeit in die sonst zunehmend düstere Szenerie. Die Staatskapelle Berlin unter Bertrand de Billy überzeugt durch Präzision und Temperament – rhythmisch durchdrungen, dramaturgisch feinfühlig. Ein Ensemble, das nicht bloß begleitet, sondern erzählt.

Besonders stark: das Verständnis für die Struktur der Oper. Etwa im sogenannten „Duett“, das keines ist – die Szene zwischen Carmen und Don José im vierten Akt, bei dem sich Melodie und Machtposition ständig verschieben. Carmen singt, José unterbricht. Sie tanzt, er verliert die Kontrolle. Musikalisch wird der Konflikt greifbar – nicht als Effekt, sondern als Konsequenz.

Carmen ist keine Oper, die mit moralischer Klarheit endet. Kein Happy End. Kein Märchen. Es ist eine Tragödie, in der Freiheit, Stolz und Leidenschaft nicht romantisiert, sondern seziert werden. Kušej macht das nicht plakativ – sondern konsequent. Und genau das überzeugt.

Auch fast 150 Jahre nach der Uraufführung bleibt Carmen ein Werk von beklemmender Aktualität: Eine Oper über Besitzansprüche, über toxische Männlichkeit, über eine Frau, die lieber stirbt, als sich vereinnahmen zu lassen. Und über Musik, die uns zeigt, wie intensiv und lebendig Oper sein kann – wenn man ihr erlaubt, zu atmen. Das Publikum der Staatsoper Berlin hat das gespürt. Und entsprechend gejubelt.

Review: Sunset Boulevard (Theater Heilbronn)

von Marcel Eckerlein-Konrath

„Mein“ Sunset Boulevard liegt mir besonders am Herzen. Im Laufe der Jahre habe ich viele verschiedene Inszenierungen gesehen – abseits der legendären Originalproduktion von Trevor Nunn. Einige davon waren inspirierend, andere solide, und wieder andere würde ich lieber aus meiner Erinnerung streichen. Nun also hat Tilman Gersch das Musical für das Pfalztheater Kaiserslautern inszeniert, aktuell zu sehen im Theater Heilbronn. Das Ergebnis: Licht und leider auch viel Schatten.

Schon der Anfang wirkt unentschlossen. Anstatt Andrew Lloyd Webbers suggestiver Ouvertüre Raum zu geben, schickt Gersch den toten Joe Gillis quirlig über die Bühne. Was genau er da tut, bleibt unklar – viel mehr als gestische Spielereien sind es nicht, und das nimmt der Eröffnung jede atmosphärische Tiefe.

Ein besonders großer Stolperstein der Inszenierung wird früh deutlich: der Einsatz von Statistinnen mit Text. Das wirkt nicht nur unprofessionell – es ist auch unfair gegenüber ausgebildeten Schauspielerinnen, die jahrelang auf genau solche Rollen vorbereitet wurden. Wenn dann plötzlich Laien mit markanten Sätzen aus dem Bühnengeschehen hervorstechen, reißt das den Zuschauer unweigerlich aus der Illusion. Es ist ein mutiger, aber wenig geglückter Griff.

Die Bühne von Julia Hattstein trifft den düsteren Grundton des Stücks recht gut. Besonders ihre Kostüme aus den 40er-Jahren fangen Zeitgeist und Atmosphäre überzeugend ein. Umso enttäuschender sind leider die Outfits für Norma Desmond – erstaunlich farblos, wenn man bedenkt, dass diese Figur eigentlich schillernde Exzentrik verkörpern sollte. Die ikonischen Kreationen von Anthony Powell bleiben unerreicht – und unerreicht angestrebt.

Debra Hays gestaltet Norma solide, aber ihr fehlt es an Tiefe. „Nur ein Blick“ bleibt gesanglich ordentlich, aber ohne innere Bewegung. Ihr Gesicht bleibt seltsam ausdruckslos, ihr Wahnsinn zu brav, ihre Selbstverliebtheit zu zahm. Die große Salome-Szene verkommt zur Slapstick-Nummer – statt Größenwahn spürt man bestenfalls Verkleidungslust.

Ganz anders dagegen Daniel Eckert als Joe Gillis: stimmlich klar, darstellerisch präzise, mit gutem Gespür für Zwischentöne. Leider bleibt er oft auf sich allein gestellt – die Regie gibt ihm wenig Raum, sich in zentralen Momenten zu entfalten. Besonders schade beim Titelsong, wo plötzlich das Ballettensemble tänzelnd um ihn herum agiert. Statt Fokus auf Joes bitterem Resümee entsteht ein Bild, das den Kern der Szene verwässert.

Daniel Böhm als Max ist ein schauspielerischer Totalausfall. Obwohl er stimmlich solide auftritt, wirkt sein Max wie eine skurrile Nebenfigur aus einer anderen Welt – seltsam bemüht, unfreiwillig komisch. Wenn er bei „Das perfekte Jahr“ hilflos Mini-Schirmchen in Cocktails steckt, wirkt das eher wie ein Fremdschäm-Moment denn als liebevoller Dienst an Norma. Was hat man sich dabei gedacht?

 

Adrienn Cunka überzeugt stimmlich als Betty, bleibt jedoch in ihrer Darstellung zu scharfkantig. Ihre Betty ist wenig warmherzig, wirkt eher wie eine verbissene Rechthaberin. Die Chemie mit Joe bleibt so auf der Strecke. Völlig unverständlich ist die Besetzung von Peter Floch als Artie – er wirkt deutlich zu alt für die Rolle des jungen Assistenten und sorgt so für eine ständige Irritation.

Musikalisch ist das Ganze dafür auf bemerkenswert hohem Niveau. Das Orchester liefert einen vollen, opulenten Klang und ist zweifellos eines der Highlights des Abends. Leider wird der musikalische Zauber nicht immer von der szenischen Umsetzung getragen. Die Mitglieder des hauseigenen Chors scheinen in manchen Momenten eher aus einer Opernproduktion zu stammen – mit entsprechender Überzeichnung. Das Musical verlangt hier mehr Feingefühl und weniger Pathos.

Technisch lief in der besuchten Vorstellung auch nicht alles rund: Mikrofone schalteten sich zu spät oder gar nicht ein – ein Missgeschick, das bei einem professionellen Haus kaum passieren dürfte.

Die Villa von Norma – eigentlich der visuelle Anker des Stücks – bleibt erschreckend karg. Es fällt schwer, sich hier eine alternde Filmdiva vorzustellen, deren Leben einst von Glamour geprägt war. Noch verwunderlicher: Warum spielt der dramatische Schlussakt ausgerechnet vor dieser Fassade, während sich Norma hinter einem Fenster abmüht, mit Betty zu telefonieren? Eine Entscheidung, die eher umständlich als wirkungsvoll wirkt.

Sunset Boulevard ist ein großartiges Musical mit kraftvoller Musik und einer faszinierenden Geschichte, inspiriert von Billy Wilders Meisterwerk. Diese Inszenierung zeigt zwar einige gelungene Ansätze – vor allem musikalisch und in Teilen des Ensembles – bleibt aber letztlich zu uneinheitlich, zu unausgewogen, um wirklich zu berühren. Ich liebe diesen Stoff, aber ich habe schon viele Inszenierungen gesehen, die mich stärker in ihren Bann gezogen haben.

Ich werde immer bereit sein für die Nahaufnahme auf meinem ganz eigenen Sunset Boulevard – aber diesmal war das Licht auf der Bühne nicht stark genug.

Review: Die Nacht der Musicals (Tour) Meistersingerhalle Nürnberg

von Marcel Eckerlein-Konrath

Ich habe da diese eine Freundin. Wenn ich bei ihr im Auto sitze, bin ich in einem Dauerzustand kontrollierter Panik. Sie fährt, als gäbe es keine Verkehrsregeln, keine anderen Verkehrsteilnehmer – und keine Gnade. Tempo 50 ist bei ihr nur eine grobe Empfehlung, rechts vor links ein optionales Gesellschaftsspiel. Und immer, wirklich immer, hat sie Vorfahrt. Es ist ein Wunder, dass wir bisher unfallfrei geblieben sind. Mein Nervenkostüm hingegen: Totalschaden mit wirtschaftlichem Totalschaden.

An genau diese Freundin musste ich denken, als ich in „Die Nacht der Musicals“ saß – ein Abend, der sich anfühlte wie ein Auffahrunfall mit Ansage. Ohne Gurt, ohne Airbag, ohne Notausgang. Man wird einfach mitgerissen – allerdings nicht im positiven Sinne. Eher wie in einer Achterbahn, deren Bügel sich nicht richtig schließen. Man klammert sich ans Sitzpolster, während das Ensemble gnadenlos durch die Welt des Musiktheaters rast, ohne Rücksicht auf Verluste, Logik oder Geschmack.

Gleich zu Begin wird die Frage gelöst, was wirklich mit Baby Jane geschah. Die spielt nämlich jetzt Musical und mimt auf Michelle Williams in „Greatest Showman“ mit weißer Schminke und gefühlt 40 Jahre zu alt für die Partie. Was bei Bette Davis im Film „What ever happend to Baby Jane” noch gewollt unheimlich aussah, verkommt hier zur sterilisierten Farce des Grauens. Warum sich Merle Saskia Krammer berufen fühlte im Operettengesang wie eine debil schauende Aufziehpuppe auf Valium durch die Gegend zu staksen, kann wahrscheinlich nur der nicht namentlich genannte Regisseur beantworten. Im Verlauf des Abends wird Krammer die Zuschauer u.a. noch als Elisabeth, Christine und Janet beglücken, wobei das ein Verb ist was ihre Gesangskünste nicht annährend und gebührend ausdrückt . Es ist der identische Effekt, den Fingernägel auf einer Schultafel verursachen oder der geißelnde durchdringende Bohrer beim Zahnarzt: So oder so weiß jeder sofort: das ist nicht angenehm und nicht wohlklingend.

Und so wird es tatsächlich ein langes Programm. Nicht falsch verstehen, wo bekommt man an einem Abend schon die Möglichkeit Ausschnitte aus „Tanz der Vampire“, „Rocky“, „Wicked“, „Die Eiskönigin“ und „We Will Rock You“ zu erleben? Da es aber eine ganze Flut an best of Musical Galas gibt die querfeldein durch deutschsprachige Hallen touren, sei hier ausdrücklich erwähnt was Qualität, Finesse und technische Umsetzung betrifft rangiert „Die Nacht des Musicals“ eindeutig auf den hinteren Plätzen. Alles an diesem angestaubten Programm wirkt lieblos zusammengeschustert, die Kostüme sind billige Überbleibsel vom Grabbeltisch der Resterampe und die Zusammenstellung der Stücke wirkt manchmal fragwürdig, oft uninspiriert und häufig schmerzvoll.

Ich habe Fragen! Warum werden Ausschnitte aus der Netflix Serie „Haus des Geldes“, ein Ed Sheeran Popsong und „Vivo per lei“ von Andrea Bocelli verwurstet und was haben sie bei einem best of Musical zu suchen? Hätte es dazu mäßig inspirierte Tanzeinlangen gebraucht? Ich sage nein! Wäre es bei der „Greatest Showman“ Sektion verzichtbar gewesen einem der Darsteller Schuhe an die Knie zu binden, so dass dieser als kleinwüchsig herhalten muss? Und warum kommt die komplette Musik als Halbplayback vom Band. Warum muss ein Off-Sprecher extra drauf hinweisen, dass sämtliche Interpret*innen live singen? Warum singt Alessandro Frick den Judas aus „Jesus Christ Superstar“ so als hätte er ADHS und zusätzlich Koks in seinem Frühstückskaffee? Warum wird Carolin Rossow wenig charmant angekündigt mit „Letztes Jahr spielte sie im Paderborner Weihnachtszirkus“? Fragen über Fragen! Warum war Bruno Grassini zwar First Cast in der Wiener „Elisabeth“ Produktion von Harry Kupfer, singt aber keinen einzigen Song aus der Show? Und warum wird der Fremdschämfaktor bis auf Anschlag gedreht, wenn Alessandro Frick als Frank’n’Furter völlig überdreht und spaßbefreit das Publikum mit peinlichen Stöhnlauten belästigt?

„Die Nacht der Musicals“ ist eben das Paradebeispiel eines Auffahrunfalls: absolut vermeidbar, überflüssig, sehr schmerzvoll und es können Personen (aka das Publikum) zu Schaden kommen. Ich denke beim nächsten Mal steige ich nicht zu meiner Freundin ins Auto, sondern nehme lieber die öffentlichen Verkehrsmittel oder setze mich selber an Steuer und achte bei meiner Fahrweise vor allem darauf umsichtig und defensiv unterwegs zu sein. Über „Die Nacht der Musicals“ hingegen hülle ich den Schleier des Vergessens.

Review: "Kleiner Mann - was nun?" Markgrafentheater Erlangen

von Marcel Eckerlein-Konrath

Eine Fernbedienung ist ein kleines Wunder der modernen Bequemlichkeit. Mit einem Knopfdruck entscheiden wir, was uns unterhält, was wir ausblenden, was wir wechseln wollen. Und genau darin liegt auch das Dilemma: Der ständige Zugriff auf Alternativen hat uns ungeduldig gemacht. Komplexe Inhalte, die Aufmerksamkeit verlangen, überfordern viele – oder werden schlichtweg weggezappt. Theater hingegen zwingt zur Präsenz, zur Auseinandersetzung. Zwei Stunden Konzentration auf ein Thema, ohne Skip-Button, ohne Pause. Es ist vielleicht gerade deshalb das ehrlichste Medium, das wir haben.

Einen Stoff wie Hans Falladas Kleiner Mann, was nun? für die Bühne zu adaptieren, ist eine große Verantwortung. Fallada, der mit seinem 1932 erschienenen Roman das kleinbürgerliche Lebensgefühl am Ende der Weimarer Republik sezierend genau einfängt, war kein Schönschreiber. Er war Realist – aber einer mit Empathie. Seine Figuren sind keine Karikaturen, sondern Menschen, die sich gegen einen unerbittlich gewordenen Alltag stemmen: wirtschaftlich, emotional, moralisch. Fallada selbst wusste, wovon er schrieb – Armut, Abhängigkeit, Absturz und Aufstieg durchzogen sein eigenes Leben. Das macht seine Texte so unmittelbar.

Doch was Regisseur Thomas Kruppa am Markgrafentheater Erlangen aus diesem Stück gemacht hat, ist keine Annäherung, kein Dialog, kein Deutungsangebot – es ist ein künstlerischer Schiffbruch.

Die Bühne zeigt einen Spielplatz, der wie ein pädagogisches Konzept aussieht, das keiner verstanden hat: Sägespäne statt Sand, ein Klettergerüst als zentrales Bühnenbild, auf dem sich die sieben Schauspieler zwei endlos lange Stunden hindurch mühen, klettern, rutschen, zappeln. Dahinter flackern computergenerierte Bilder – mal Häuser, mal Wörter, mal Diagramme – als hätte jemand ein Schulprojekt mit PowerPoint und nostalgischer Commodore-Grafik auf die große Bühne gezogen. Weder die Motive noch deren Rhythmus ergeben dramaturgisch irgendeinen Sinn.

Die Textfassung (nach Sibylle Bachung und Michael Thalheimer) wird von einem Chor kommentiert, der jegliche Nuance menschlicher Emotion niederwalzt. Keine Zwischentöne, kein Raum für Subtext. Stattdessen: monotone Reihungen von Stichworten, agitatorisch vorgetragen, wie ein mechanisches Aufsagen eines Slogans. Das ist nicht politisch, das ist pädagogisch im schlechtesten Sinne. Die Kraft von Falladas Sprache, ihre lakonische Klarheit, ihre feine Psychologie – sie kommt in dieser Inszenierung nicht vor. Und das ist mehr als nur ein verpasster Moment. Es ist eine komplette Verfehlung.

Dabei wäre das Thema so aktuell: Leistungsdruck, ökonomischer Absturz, die Zerreißprobe junger Familien, das Gefühl, in einer Welt nicht zu genügen, die Menschen nach Produktivität bewertet – das alles steckt in Falladas Text. Der berühmte Satz „Nur nicht arbeitslos werden!“ klingt heute wie damals. Und doch scheitert diese Inszenierung daran, diese Relevanz in ein sinnlich erfahrbares Theatererlebnis zu übersetzen.

Einige Darsteller versuchen, dem Konzept noch Leben einzuhauchen: Johannes Rebers spielt einen nuancierten Pinneberg, dem man die innere Zerrissenheit abnimmt. Alina Valerie Weinert gelingt es in Momenten, Lämmchens Wärme und Tragik durchscheinen zu lassen. Doch beide werden von der Regie in einem Korsett gehalten, das keine Entwicklung zulässt. Alles bleibt Behauptung, kein Moment darf atmen.

Dass der Abend trotz seines ambitionierten Materials so blutleer bleibt, ist tragisch. Falladas Kleiner Mann ist eine Chronik des prekären Lebens, eine Studie über den Stolz der Ohnmächtigen. Die Romanvorlage lässt uns die Wucht eines Systemversagens spüren – auf Augenhöhe mit Menschen, die nichts wollen als ein halbwegs anständiges Leben. Von all dem bleibt hier nichts übrig.

Stattdessen: künstlicher Lärm, Ideenlosigkeit und visuelle Zumutungen. Kein Rhythmus, keine Dramaturgie, kein Bogen. Nur zähe Behauptung und inszenatorischer Größenwahn.

Es ist, als würde man eine Folge Babylon Berlin schauen – aber ohne Talent, ohne Spannung, ohne Sinn. Nur mit Sägespänen. Man fragt sich irgendwann: Wäre Wegzappen jetzt eine Option? Oder zumindest ein Notausgang?

Fallada lässt Pinneberg im Roman sagen: „Der Arbeiter kriegt sein gutes Essen nicht, und ich krieg mein Theater nicht – es ist alles die gleiche Wichse.“ Bitter, wie treffend das hier klingt. Nur dass einem beim Lesen dieser Zeile mehr Empathie bleibt als nach diesem überfrachteten, überkonzipierten Abend.

Review: HAIRSPRAY am Staatstheater Nürnberg

von Marcel Eckerlein-Konrath

Es gibt Theaterabende, die sich unauslöschlich einprägen – leider auch im negativen Sinne. Ich erinnere mich an eine namenlose Produktion in einer ebenso vergessenswerten Stadt, die meine Leidenschaft für das Theater fast zum Erlöschen brachte. Was dort geboten wurde, war derart katastrophal, dass sich jeder Akt wie ein schmerzhafter Tritt in die Magengrube anfühlte. Doch dann gibt es Abende wie diesen – und plötzlich ist alles wieder gut. Melissa King bringt Hairspray von Marc Shaiman auf die Bühne des Staatstheaters Nürnberg, und man weiß wieder ganz genau, warum Theater so überwältigend sein kann.

King beweist nicht nur als Regisseurin ein sicheres Gespür für Timing, Humor und emotionale Tiefe, sie verantwortet auch – wie so oft in ihren Arbeiten – die Choreografie. Und was sie daraus macht, ist schlichtweg beeindruckend: ideenreich, energiegeladen, mitreißend und voller feiner Nuancen. Kings Inszenierung hat internationales Format, ohne sich anbiedern zu müssen. Alles wirkt präzise durchdacht, zugleich aber nie steril – es lebt, pulsiert und reißt mit.

Im Zentrum: die sensationelle Beatrice Reece als Tracy Turnblad. Ihre Bühnenpräsenz ist elektrisierend. Sie singt, tanzt und spielt mit einer Leichtigkeit und emotionalen Tiefe, die einen vom ersten Ton von „Good Morning Baltimore“ bis zum furiosen Finale von „Niemand stoppt den Beat“ durchgehend fesselt. Reece gelingt es, die Figur nicht zur Karikatur zu machen, sondern als glaubhafte, herzensgute Rebellin zu verkörpern, die für Gerechtigkeit kämpft – gegen Rassismus, Bodyshaming und Intoleranz. Ihre Stimme ist kraftvoll, ihr Spiel berührend. Ohne Frage: eine der stärksten Musical-Leistungen, die man derzeit im deutschsprachigen Raum erleben kann.

Melissa King betont selbst, wie wichtig ihr Tracys Geschichte ist: „Sie bewertet Menschen nicht nach dem Äußeren. Das Stück behandelt so viele Themen, die bis heute schmerzhaft aktuell sind – von Rassismus über Gleichberechtigung bis hin zu Selbstakzeptanz.“

Die Handlung führt uns ins Baltimore der 1960er-Jahre. Die „Corny Collins Show“ ist Tracys große Obsession – dort tanzen jeden Tag die angesagtesten Teenager. Doch Tracy entspricht nicht dem gängigen Schönheitsideal. Als sie beim Nachsitzen auf ihre afroamerikanischen Mitschüler*innen trifft und von deren Tanzstil begeistert ist, beschließt sie, ihren Traum dennoch zu verfolgen – und gleichzeitig die Rassentrennung im Fernsehen nicht länger hinzunehmen.

 

Neben Reece glänzt ein bemerkenswerter Cast. Allen voran Andrea Pagani als Edna und Hans Kittelmann als Wilbur – ein komödiantisches Dreamteam. Ihr Duett „Du bist zeitlos für mich“ ist hinreißend, berührend und ein Höhepunkt des Abends. Kristin Hölck  gibt eine pointiert fiese Velma van Tussle mit gesanglicher Exzellenz, Marie-Anjes Lumpp lässt als zickige Amber keine Gelegenheit aus, für genüssliches Augenrollen zu sorgen. Benjamin Sommerfeld als Link Larkin hat Charme und Humor, Malcolm Quinnten Henry begeistert als Seaweed mit tänzerischer Präzision und viel Soul in der Stimme. Und wenn Deborah Woodson „Ich weiß, wo ich war“ singt, wird das Opernhaus zur Kirche. Standing Ovations fast garantiert. Auch das Dynamite-Trio (Vanessa Weiskopf, Meimouna Coffi und Taryn Nelson Di Capri) ist musikalisch wie darstellerisch ein echter Gewinn.

Die Produktion zeigt eindrucksvoll, dass ein Stadttheater wie Nürnberg sich keineswegs hinter den großen kommerziellen Häusern verstecken muss. Im Gegenteil – das hier hat Broadway- und West-End-Niveau. Die Bühne von Knut Hetzer ist variabel, funktional und atmosphärisch dicht. Die Kostüme von Judith Peter atmen den Geist der 60er-Jahre mit liebevollen Details, das Orchester unter der Leitung von Andreas Paetzold spielt leidenschaftlich und mit sattem Klang.

 

Einzig bleibt zu hoffen, dass das Staatstheater Nürnberg diesem Erfolg ein Signal abgewinnt: Bitte mehr Musical! Der tosende Applaus und das aufrechte Publikum am Ende des Abends zeigen deutlich – das Bedürfnis und die Begeisterung sind da.

Niemand stoppt den Beat – und hoffentlich auch nicht diese fulminante, mitreißende Inszenierung, die das Herz weitet und das Theater feiern lässt.

Review: „Die Schöne und das Biest“ (Tour) Nürnberg

Als Angela Lansbury 1991 im Disney-Zeichentrickfilm den Titelsong „Beauty and the Beast“ sang, konnte wohl niemand ahnen, welchen ikonischen Status sie damit begründen würde. Der Film selbst – mit Musik von Alan Menken und Texten von Howard Ashman – wurde zum Meilenstein: ein Klassiker, der über Generationen hinweg Herzen berührte. Nicht zuletzt wegen seiner zeitlosen Geschichte, die mit Charme, Witz und liebenswert gezeichneten Figuren immer wieder aufs Neue verzaubert.

Dass „Die Schöne und das Biest“ irgendwann auch die Musicalbühne erobern würde, war nur eine Frage der Zeit. Menkens Kompositionen, die bereits im Film perfekt ineinandergreifen, wirken wie gemacht für eine große Bühne. 1994 war es so weit: Das Musical feierte am Broadway Premiere und avancierte mit über 5.400 Vorstellungen zu einem der langlebigsten Hits der New Yorker Theaterwelt. Sechs neue Songs wurden für die Bühne ergänzt – klanglich stimmig, dramaturgisch reizvoll – und machten aus dem anderthalbstündigen Film ein abendfüllendes Musical.

Nun ist die Geschichte in einer Neuinszenierung des Budapester Operettentheaters unter der Regie von György Böhm erneut auf deutschsprachigen Bühnen zu erleben. Und vieles an dieser Produktion überzeugt. Das Bühnenbild von István Rózsa setzt auf Tourneetauglichkeit, ist aber dennoch wirkungsvoll. Die drehbare Konstruktion auf zwei Ebenen erlaubt fließende Übergänge und klare Szenenwechsel. 

Unterstützt wird das visuelle Konzept durch ein Orchester, das unter der Leitung von Marton Rácz mit luxuriösem Klang begeistert – eine Seltenheit im Touringbetrieb, wo sonst häufig an musikalischer Besetzung gespart wird. Hier erklingt Menkens Partitur in voller orchestraler Pracht – detailreich, dynamisch und mitreißend.

Flora Széles als Belle ist ein Glücksgriff. Mit warmem Mezzo und natürlicher Bühnenpräsenz trifft sie die Figur punktgenau – selbstbewusst, verletzlich, sympathisch. An ihrer Seite gibt Sándor Barkóczi dem Biest ein glaubwürdiges Innenleben. Vor allem stimmlich überzeugt er mit einem runden, expressiven Bariton. Die Entwicklung zwischen Belle und dem Biest gelingt hier deutlich plausibler als in der Filmvorlage – Böhm findet für ihre Annäherung viele kleine Zwischentöne und zeichnet ihre Beziehung mit großer Sorgfalt.

Für Humor sorgen die verzauberten Schlossbewohner, allen voran Tamás Földes als von Unruh, der seine Rolle mit sichtlicher Spielfreude und gelungenem Timing versieht. Die Kostüme von Erzsébet Túri sind kreativ gestaltet, liebevoll detailliert – sei es Tassilos Zuckerwürfel-Hut oder Lumières echte Flammen an den Kerzenarmen. Solche verspielten Elemente unterstreichen die märchenhafte Welt ohne ins Kitschige abzudriften.

Ein starker Einstieg gelingt mit der Schattenbild-Sequenz zur Vorgeschichte des Prinzen – atmosphärisch, klar und bildstark. Schade, dass dieses Stilmittel im Verlauf der Inszenierung nicht erneut aufgegriffen wird. Die Choreographien von Éva Duda bleiben solide, ohne große Überraschungen. Besonders im Eröffnungssong „Belle“ wirken die Bewegungen etwas steif und mechanisch. Der ikonische Showstopper „Sei hier Gast“ enttäuscht dagegen leicht: Trotz Aufwand und Glitzer zündet die Nummer nicht recht. Die Tanzeinlagen wirken überinszeniert, manche Performer beinahe verloren in ihren fantasievollen Utensilienkostümen.

Nicht jede Besetzung kann überzeugen. Norman Szentmártoni als Gaston bringt zwar die nötige Physis mit, bleibt aber in Darstellung und Gesang blass. Seine Szenen wirken hölzern, fast leblos – was die eigentlich so überlebensgroße Figur spürbar schmälert.

Ein weiteres Problem zieht sich durch das Stück: die Textverständlichkeit. Vor allem in Ensemble-Passagen verschwimmen die deutschen Texte (Einstudierung: Martin Harbauer) zu einem klanglichen Brei, der den Inhalt oft nur noch erahnen lässt. Glücklicherweise gibt es Ausnahmen: Nikolett Füredi, ungarische Singstimme von Elsa in „Die Eiskönigin“, überzeugt als Madame Pottine mit viel Herzenswärme und rührt im Titelsong zu Tränen. Besonders schön und überraschend gelöst ist auch die finale Verwandlungsszene des Biests, die mit einem kreativen Kniff verblüfft.

Fazit:
Diese neue Version von Disneys Die Schöne und das Biest ist ein musikalisch hochwertiges, größtenteils stimmiges Bühnenmärchen. Sie schöpft ihre Stärken aus einem klangvollen Orchester, einer feinfühligen Regie und einem überzeugenden Leading Couple. In einigen choreografischen Momenten und bei der Textverständlichkeit bleiben Wünsche offen – dennoch gelingt insgesamt eine fantasievolle und berührende Inszenierung, die das Publikum zurück in jene Welt entführt, in der ein Fluch sich in Liebe verwandelt und Märchen immer wieder wahr werden.

Review: FLASHDANCE (Tour) Meistersingerhalle Nürnberg

von Marcel Eckerlein-Konrath

Schulterpolster, Stirnband, Kassettenrekorder – die 80er-Jahre sind ein Jahrzehnt, das modisch zwar diskutabel, musikalisch aber längst Kult ist. Kaum ein Jahrzehnt hat derart viele Evergreens hervorgebracht, die noch heute jede müde Party retten. Irene Caras „What A Feeling“ gehört dabei zu den unverwüstlichen Klassikern. Der Song gewann 1983 Oscar, Golden Globe und Grammy – und katapultierte den Film Flashdance in den Pop-Olymp. Bis heute ist der Titelsong fester Bestandteil jeder 80er-Playlist – und ein Soundtrack zum kollektiven Hüftkreisen.

2008 wurde aus dem Kultfilm schließlich ein Musical. Die Weltpremiere fand im britischen Plymouth statt, 2010 folgte das West End in London. Seither tourt die Show in unterschiedlichen Fassungen durch Großbritannien, Deutschland und die Schweiz. Aktuell ist sie unter der Regie von Christoph Drewitz wieder auf deutschen Bühnen zu sehen – und weckt damit hohe Erwartungen an ein schillerndes Revival der Neon-Ära.

Die Überraschung folgt auf dem Fuß:
Wer auf Schulterpolster, Neonfarben und Stirnbänder hofft, wird enttäuscht. Drewitz verzichtet bewusst auf ein 80er-Jahre-Zitatfeuerwerk. Die Kostüme wirken modern, beinahe zeitlos – ein klarer Bruch mit der Ästhetik des Films. Auch die Bühne von Adam Nee ist funktional, flexibel und eher industriell als nostalgisch. Pittsburghs Stahlwerke und Bars erscheinen hier als kühles, grafisches Bühnenbild, das viel Raum für Bewegung lässt – aber wenig Flair vergangener Dekaden versprüht.

Erzählt wird die Geschichte von Alex Owens, einer jungen Frau, die tagsüber in einem Stahlwerk arbeitet und nachts als Tänzerin auftritt. Ihr Traum: ein Platz an der renommierten Shipley-Tanzakademie. Als sie sich in ihren Chef Nick Hurley verliebt, gerät ihre Welt aus dem Gleichgewicht – und Alex steht vor der Entscheidung, ob sie für ihren Traum kämpfen oder in ihr altes Leben zurückkehren soll.

Die Inszenierung punktet mit einem hoch engagierten Ensemble, das mit viel Energie durch das zweistündige Programm führt. Getanzt wird zu den großen Hits des Films – „Maniac“, „Gloria“, „I Love Rock’n’Roll“ – unterstützt von Choreografien, die viel Dynamik, aber wenig erzählerischen Tiefgang bieten. Besonders Tamara Pascual als Gloria überzeugt mit starker Bühnenpräsenz, gesanglicher Präzision und einer tänzerischen Leichtigkeit, die ihresgleichen sucht. Julia Waldmayer gibt Alex als kraftvolle Kämpferin mit starker Stimme, vor allem in der finalen „What A Feeling“-Szene, die die Stimmung noch einmal auf den Siedepunkt treibt – auch wenn der große emotionale Durchbruch etwas ausbleibt.

Problematisch bleibt jedoch der Sound.
Immer wieder sind einzelne Stimmen zu leise abgemischt oder gehen im Playback unter. Besonders Karina Schwarz als Hanna hat mit der Abmischung zu kämpfen – ihre Solonummer „Eins zu ’ner Million“ leidet unter schwacher Textverständlichkeit. An Stellen wie diesen wird die technische Umsetzung zum Stolperstein, der dem Gesamteindruck schadet.

Inhaltlich bleibt die Handlung dünn, was bei einem Musical dieser Art nicht weiter überraschen muss – aber nicht jede Nebenhandlung trägt zur Atmosphäre bei. Der Handlungsstrang um den angehenden Stand-up-Comedian Jimmy wirkt bemüht und bremst die Dynamik. Die Figur bringt weder dramaturgische Tiefe noch Humor, sondern bleibt als dramaturgisches Füllmaterial zurück.

Auch musikalisch kann das Stück nicht durchgehend überzeugen. Während die Filmsongs für echte Begeisterung sorgen, bleiben die neu komponierten Nummern von Robbie Roth und Robert Cary blass. Sie sind solide, aber ohne echten Ohrwurmcharakter – und können gegen die Strahlkraft der Originale nicht bestehen. Man fragt sich unweigerlich, warum nicht mehr 80er-Hits eingebunden wurden. Denn genau in diesen Momenten, wenn das Publikum die ersten Takte von „Maniac“ oder „What A Feeling“ erkennt, lebt die Show auf.

Fazit:
Flashdance bietet kurzweilige, oft mitreißende Unterhaltung, getragen von einem motivierten Ensemble und einigen starken Einzelleistungen. Die Inszenierung verzichtet auf 80er-Klischees – was mutig ist, aber nicht immer funktioniert. Der emotionale Kern bleibt etwas vage, die musikalischen Eigenkompositionen eher Mittelmaß, und der technische Klang teils störend. Trotzdem: Wer sich auf das Spektakel einlässt, erlebt einen Abend mit Tempo, Tanz und einem Hauch von Nostalgie. Und wenn am Ende der Song erklingt, auf den alle gewartet haben, ist er wieder da – der Moment, in dem man denkt: What a feeling.

Review: „SUGAR“ im Alten Schauspielhaus Stuttgart

Wir schreiben das Jahr 1972. Am Broadway feiert ein neues Musical von Jule Styne Premiere. Der Name Styne steht zu diesem Zeitpunkt für musikalisches Weltniveau – ein Tony- und Oscar-Preisträger, der mit Funny Girl und Gypsy zwei Meilensteine des amerikanischen Musiktheaters geschaffen hat. Es war Styne, der Barbra Streisand zu ihrem Durchbruch verhalf, und der mit Stephen Sondheim arbeitete, als dieser noch ganz am Anfang stand.

Doch 1972 ist auch ein Jahr im Umbruch: das Olympia-Attentat in München, die beginnende Watergate-Affäre, ABBAs erste Single. Die Welt wird unübersichtlicher, politischer, lauter. Inmitten all dessen wirkt ein Broadway-Musical im jazzigen Big-Band-Gewand fast wie aus der Zeit gefallen – nostalgisch, charmant, aber vielleicht auch ein wenig orientierungslos.

„Sugar“ basiert auf Billy Wilders Komödienklassiker Some Like It Hot – einem Film, der nichts von seinem Esprit, seinem Rhythmus und seiner erzählerischen Raffinesse verloren hat. Jack Lemmon und Tony Curtis schlüpfen in Frauenkleider, nicht aus Spaß an der Verkleidung, sondern weil ihnen schlichtweg die Flucht vor der Mafia keine andere Wahl lässt. Marilyn Monroe war nie schöner, nie verletzlicher, nie witziger. Und Wilder? Inszenatorisch auf dem Höhepunkt – mit einem Gespür für Timing, Pointen und Subtext, das bis heute Maßstäbe setzt.

Der Schluss-Satz „Nobody is perfect“ ist weit mehr als ein Gag: Es ist ein plötzlicher, tiefer humanistischer Moment. Ein Satz, der Geschlechterrollen dekonstruiert und Liebe jenseits von Konventionen denkt – ein kleines Meisterwerk in fünf Worten.

Und genau damit tut sich die Bühnenadaption in Stuttgart schwer.

Das Alte Schauspielhaus bringt mit „Sugar“ ein Stück Broadway-Nostalgie auf die Bühne. Es ist ein Wiedersehen mit bekannten Figuren: Sugar Kane, Joe alias Josephine, Jerry alias Daphne. Das Ensemble spielt mit spürbarer Hingabe, die Produktion ist ambitioniert. Aber es fehlt ihr an Mut zur Eigenständigkeit.

Klaus Seiferts Inszenierung bemüht sich sehr, dem Film gerecht zu werden – vielleicht zu sehr. Trotz gegenteiliger Aussagen im Programmheft orientiert sich die Inszenierung in Tempo, Bildsprache und Dramaturgie auffällig nah am Original. Dabei reduziert die Stuttgarter Fassung die ohnehin filmisch sehr dynamische Handlung auf ein eher statisches Bühnenspiel – eine Herausforderung, der das Stück nicht immer gewachsen ist.

 

Der Witz, der im Film so organisch aus der Situation wächst, wirkt auf der Bühne häufig angestrengt oder gar konstruiert. Die Verwandlung der beiden Hauptfiguren in Frauen geschieht zu abrupt, das Spiel mit Gender-Klischees ist oft zu plakativ. Timing und Slapstick treffen nicht immer den richtigen Ton, manche Gags verlieren an Wirkung, weil sie zu sehr „gespielt“ wirken.

Musikalisch liefert Jule Styne ein handwerklich solides Broadway-Score mit klassischen Swing- und Jazz-Elementen. Doch der Funke will nicht so recht überspringen. Nur wenige Nummern bleiben im Ohr – allen voran „The Beauty That Drives Men Mad“ (dt.: „Schönheit“). Ansonsten fehlt es der Partitur an melodischer Schärfe, an Überraschung, an emotionalem Zugriff. Wer an Stynes große Hymnen wie „Don’t Rain on My Parade“ oder „People“ denkt, wird hier eher ernüchtert. Vielleicht war die Zeit des ganz großen kompositorischen Einfalls bei Styne 1972 schon vorbei.

 

Die Darstellerinnen und Darsteller holen aus dem Material jedoch das Beste heraus.
Maja Sikora gibt der Rolle der Sugar eine eigene Note: charmant, präsent und mit starker Stimme – keine Monroe-Kopie, sondern eine eigenständige Bühnenfigur. Samuel Schürmann und Björn Schäffer harmonieren als Joe/Josephine und Jerry/Daphne vor allem gesanglich sehr gut, auch wenn das Spiel mit dem komödiantischen Potenzial nicht immer treffsicher ist. Ralph Morgenstern glänzt als Osgood mit sichtbarem Vergnügen an der Rolle – und liefert den berühmten Schlusssatz mit einer Nonchalance, die kurz daran erinnert, wie groß dieser Moment einst war.

Fazit:
„Sugar“ ist eine liebevolle, aber harmlose Hommage an ein filmisches Meisterwerk. Die Produktion bietet unterhaltsames Musiktheater mit nostalgischem Flair, ohne eigene Akzente zu setzen. Das Stück fällt tatsächlich ein wenig aus der Zeit – aber vielleicht ist genau das in einer überkomplexen Gegenwart auch ein kleiner Trost. Die große Magie des Originals bleibt unerreicht, doch als leichtfüßige Ablenkung funktioniert „Sugar“ zumindest streckenweise. Niemand ist perfekt – auch dieses Musical nicht. Aber einen charmanten Abend kann man ihm dennoch nicht absprechen.

Review: „Sherlock Holmes – The Next Generation“ (Tour)

von Marcel Eckerlein-Konrath

Selbst ein Meisterdetektiv wie Sherlock Holmes würde an diesem Abend wohl vor einem Rätsel kapitulieren. Was genau hat das Kreativteam rund um Regisseur und Autor Rudi Reschke dazu bewogen, Arthur Conan Doyles legendäre Figur in ein Musical zu verwandeln? Vielleicht wird man diese Entscheidung nie ganz entschlüsseln können – genauso wenig wie viele andere Elemente dieser eigenwilligen Produktion.

Dabei mangelt es nicht an Versuchen, Spannung zu erzeugen. Wir befinden uns im London des frühen 20. Jahrhunderts. Holmes (Ethan Freeman) ist in die Jahre gekommen, residiert aber noch immer an der Seite von Dr. Watson (Matthias Otte) in der Baker Street und wartet auf den nächsten großen Fall. Ein persönliches Kapitel aus seiner Vergangenheit bringt schließlich die titelgebende „Next Generation“ ins Spiel – die Geschichte nimmt Fahrt auf, zumindest theoretisch.

Was als Krimi-Musical angekündigt wird, entwickelt sich in der Realität eher zu einer Mischung aus trägem Schauspiel mit Musikeinlagen und müder Versatzstück-Operette. Die Handlung bleibt blass, die Figuren erstaunlich flach, und die versprochene Spannung ist kaum spürbar. Jede durchschnittliche Folge von Inspektor Barnaby bietet mehr Nervenkitzel – und mehr britisches Flair. Die vollmundige Ankündigung von einem „spannungsgeladenen Abenteuer, das Artistik, Stunts und modernste Bühnentechnik“ vereine, ist wohl eher ein PR-Kunstgriff als eine tatsächliche Beschreibung.

Die Ausstattung (Reschke und Dietmar Wolf) arbeitet mit projizierten Szenerien – mal stimmig, wie beim Wasserfall zu Beginn, mal schlicht bizarr (eine Lavalampe als Stilmittel?). Requisiten werden von den Darstellerinnen und Darstellern mehr geschoben als platziert, was nicht nur ungeschickt wirkt, sondern den Erzählfluss regelmäßig stört. Miss Hudson, gespielt von Annette Lubosch mit viel Lautstärke und wenig Nuance, bringt es auf den Punkt: „Der Lack ist ab“ – eine Bemerkung, die man leider auf große Teile der Inszenierung anwenden kann.

Auch musikalisch will der Funke nicht überspringen. Die erste Nummer – „Ein Fall für Sherlock Holmes“ – lässt noch hoffen: eine brauchbare Melodie, ein Hauch von Humor, eine Spur Drive. Doch danach geht es bergab. Die Kompositionen und Texte von Christian Heckelsmüller bewegen sich zwischen Kindermusik, Jahrmarkt und Fahrstuhlpop. Die Reime wirken bemüht, manchmal unfreiwillig komisch, selten wirklich clever. Das Lied „Opium“, das inhaltlich einen fiebrigen Albtraum darstellen soll, entgleist völlig – Claudio Maniscalco kämpft sich tapfer hindurch, bleibt aber chancenlos gegen die groteske musikalische Vorlage.

Dass Ethan Freeman für dieses Projekt zugesagt hat, ist vielleicht das größte Rätsel des Abends. Freeman ist ein Routinier, ein Könner – sein Name steht für Qualität auf der Musicalbühne. Doch in dieser Rolle kann er kaum glänzen. Die Figur Sherlock Holmes bleibt seltsam leblos, wirkt uninspiriert und seltsam fern. Selbst Freemans Präsenz kann das nicht überdecken.

Auch sein Partner im Spiel, Matthias Otte als Watson, bleibt farblos. Die Rolle gibt ihm wenig bis gar nichts zu tun – und so verschwindet er nahezu in der Kulisse. Die eigentliche „Next Generation“, bestehend aus Florian Minnerop (John) und Alice Wittmer (Catherine), singt engagiert, hat aber musikalisch kaum Material, das echten Eindruck hinterlässt. Dass sich auf „unvergänglich“ das Wort „selbstverständlich“ reimen muss, sagt viel über die textliche Raffinesse.

„Da muss doch mehr sein“, fragt John im Stück – und man möchte ihm aus vollem Herzen zustimmen. Es gibt in dieser Inszenierung durchaus gute Ansätze, einzelne gelungene Bilder, kleine musikalische Lichtblicke. Doch sie reichen nicht, um das Stück zu retten. Statt eines „Bühnenspektakels, das den Zuschauer mitten ins Geschehen zieht“, erhält man einen zähen Abend, der sich über weite Strecken erstaunlich ereignislos anfühlt.

Am Ende bleibt vor allem Ratlosigkeit zurück. Der Vorhang fällt, aber das große Rätsel, wie aus dieser Geschichte ein packendes Musical hätte werden können, bleibt ungelöst.

Oder, um es mit Brecht zu sagen:
„Wir stehen selbst enttäuscht und sehn betroffen // Den Vorhang zu und alle Fragen offen.“

Review: „SpongeBob – Das Musical“ (Tour)

von Marcel Eckerlein-Konrath

Was wurde im Lauf der Musicalgeschichte nicht schon alles auf die Bühne gebracht. Ein Boxer, der sich musikalisch durch den Ring schlägt (Rocky), Scarlett O’Hara im dramatischen Duett mit Rhett Butler vor brennender Kulisse (Vom Winde verweht), und sogar Stephen Kings blutgetränkte Highschool-Hölle (Carrie) – letzteres ein Flop von beinahe legendärem Ausmaß. Da verwundert es kaum noch, dass nun auch ein gelber Meeresschwamm die Hauptrolle eines Musicals übernimmt.

Doch anders als erwartet war SpongeBob – Das Musical am Broadway kein totaler Reinfall. Mit immerhin 327 regulären Vorstellungen und zahlreichen Tony-Nominierungen erreichte die Produktion eine durchaus respektable Laufzeit. Für Nickelodeon offenbar Grund genug, der Show ein neues Bühnenleben zu schenken – abgespeckt, deutschsprachig und auf große Deutschlandtour geschickt.

Die Handlung bleibt dabei weitgehend gleich: Ein drohender Vulkanausbruch bringt Bikini Bottom in höchste Gefahr. Während Panik ausbricht, bleibt SpongeBob unerschütterlich optimistisch und entschlossen, seine Heimat zu retten. Unterstützung erhält er – zumindest theoretisch – von seinem besten Freund Patrick Star und weiteren Bewohnern der Unterwasserstadt. Doch zusätzlich zu den Naturgewalten sorgt auch Erzschurke Plankton mit einem weiteren finsteren Plan für Chaos. Die Lage spitzt sich zu, und nur ein echter Held kann Bikini Bottom retten. Die Bühne ist bereitet – zumindest dramaturgisch.

Die Inszenierung von Timo Radünz bemüht sich sichtlich um Zugänglichkeit und Tempo. Das Bühnenbild von Lukas Pirmin Waßmann ist pragmatisch und tourneetauglich: bunt, modular, funktional – ohne große Effekte, aber solide umgesetzt. Das Ensemble agiert mit viel Energie, doch es gelingt nicht allen, diese auch in echtes Charisma zu übersetzen. Michiel Janssens als SpongeBob ist eine wohltuende Ausnahme. Er trifft den Ton der deutschen Synchronstimme erstaunlich genau, wirkt stimmlich sicher, körperlich präsent und hat hörbar Spaß an der Rolle. Man nimmt ihm die Figur ab – in Mimik, Bewegung und Stimme.

Ganz anders Benjamin Eberling als Patrick Star: Die Rolle bleibt seltsam konturlos, die Darstellung über weite Strecken blass. Die Chemie zwischen den beiden „besten Freunden“ wirkt konstruiert, statt organisch. Gerade in einer Geschichte, die auf Freundschaft als zentrales Motiv setzt, wiegt das schwer.

Musikalisch ist die Produktion ebenso bunt gemischt wie ihr Bühnenbild – was sich allerdings weniger positiv auswirkt. Komponiert wurde das Stück von einem ganzen Kollektiv prominenter Namen, darunter John Legend, Cyndi Lauper, Sara Bareilles und David Bowie. Was auf dem Papier beeindruckend klingt, erweist sich in der Praxis als Stolperstein. Die Songs bleiben oft brav und austauschbar, es fehlt an musikalischer Handschrift und verbindendem Konzept. Kaum eine Nummer bleibt im Ohr. Man hört vieles, aber wenig davon hinterlässt Eindruck. Dass die Musik zudem ausschließlich vom Band kommt, macht die Sache nicht besser. Der Sound wirkt steril, die fehlende Live-Band nimmt der Inszenierung wichtige Energie und Lebendigkeit.

Auch szenisch wirkt der Abend über weite Strecken zäh. Die Gags sind kindgerecht – im besten Fall – aber oft wenig originell. Die Dialoge sind flach, der Wortwitz dünn, und viele Pointen verpuffen im Nichts. Besonders störend: Die Textverständlichkeit bei Songs und Dialogen ist stellenweise so schwach, dass man oft nur erahnen kann, worum es gerade geht. Für ein Stück, das sich sowohl an Kinder als auch Erwachsene richtet, ist das ein handwerkliches Manko.

Hinzu kommt die überlange Spielzeit: Mit rund zweieinhalb Stunden (inklusive Pause) wirkt die Show schlicht zu ausgedehnt. Viele Szenen hätten straffer inszeniert oder ganz gestrichen werden können. Ein frühes Beispiel dafür ist der Pirat, der bereits vor Showbeginn „komisch“ durch den Zuschauerraum irrt. Dieser Einstieg will witzig sein, zieht sich aber unangenehm lang – und leider bleibt das Gefühl eines mühsamen Anfangs für den Rest des Abends bestehen.

Und damit sind wir beim Kernproblem: SpongeBob – Das Musical weiß offenbar selbst nicht genau, wer sein Publikum sein soll. Für Kinder ist es zu lang, für Erwachsene nicht bissig oder originell genug. Die Mischung aus slapstickartiger Comedy, schräger Handlung und moralischer Botschaft ergibt kein stimmiges Ganzes. Statt großer Emotionen, starker Songs oder ansteckender Spielfreude bleibt am Ende vor allem ein Gefühl: lauwarme Unterhaltung mit viel Farbe, aber wenig Substanz.

Man kann den Machern den guten Willen nicht absprechen – und auch nicht das Engagement vieler Darsteller. Doch leider reicht das nicht aus, um einen wirklich mitreißenden Theaterabend zu gestalten. Und so bleibt die Frage, ob ein Schwamm als Musicalheld wirklich die beste Idee war, letztlich beantwortet mit „nein“.

Review: „LA CAGE AUX FOLLES“ an der Wiener Volksoper

von Marcel Eckerlein-Konrath

Ein Mann, allein im Lichtkegel. Die Bühne ist leer, die Pose stolz, der Blick entschlossen – und plötzlich ganz verletzlich. Es ist das Finale des ersten Aktes, in dem Zaza alias Albin ihre Maske fallen lässt. „Ich bin, was ich bin“ singt Drew Sarich mit bebender Stimme – und für einen Augenblick scheint die Zeit stillzustehen. Es ist ein Moment, wie er im Musical nur selten gelingt: persönlich, politisch, kraftvoll. Und der Höhepunkt eines Abends, der lange nachhallt.

Doch zurück zum Anfang – denn dort beginnt bekanntlich jede gute Geschichte. Als La Cage aux Folles 1983 am Broadway Premiere feierte, schrieb es Musicalgeschichte. Sechs Tony Awards, ein liebevoll gezeichnetes schwules Paar im Zentrum der Handlung, eine klare Botschaft für Toleranz, Respekt und Selbstbestimmung – das war zu dieser Zeit alles andere als selbstverständlich. Harvey Fiersteins Buch, in der deutschen Übersetzung von Erika Gesell und Christian Severin, hat bis heute nichts an Witz, Wärme und Charme eingebüßt. Und Jerry Hermans Komposition ist ein Feuerwerk an Melodien, deren Leichtigkeit nie über die Tiefe der Figuren hinwegtäuscht.

An der Wiener Volksoper bringt Regisseurin und Choreografin Melissa King diese klassische Revue-Komödie nun auf die Bühne – und beweist dabei ein sicheres Gespür für Timing, Tonalität und Tiefgang. Zwischen federleichter Travestie und leiser Melancholie, zwischen knalligem Showbiz und ehrlicher Intimität entfaltet sich ein Abend, der unterhält, berührt und – ganz nebenbei – Haltung zeigt.

Im Zentrum stehen Georges, Betreiber des Nachtclubs La Cage aux Folles, und Albin, sein langjähriger Partner und Star der abendlichen Shows. Seit zwanzig Jahren sind die beiden ein Paar – und Elternfigur für Georges‘ Sohn Jean-Michel, der nun ausgerechnet Anne heiraten will: die Tochter eines erzkonservativen Politikers, der Travestie-Clubs am liebsten aus dem öffentlichen Leben verbannen möchte. Um vor seinen zukünftigen Schwiegereltern eine „anständige“ Familie vorweisen zu können, bittet Jean-Michel seinen Ziehvater, sich für einen Abend zu verstellen – als diskreter „Onkel Al“.

Was folgt, ist eine wunderbar altmodische Boulevard-Komödie mit Herz – voll klug gesetzter Pointen, warmherzigem Humor und exzellentem Timing. Drew Sarich als Albin/Zaza ist das emotionale Zentrum der Inszenierung. Mit starker Bühnenpräsenz, satter Stimme und präzisem Spiel meistert er die Gratwanderung zwischen Glamour und Echtheit. Seine Zaza ist nie eine Karikatur, nie bloß schrill – sondern eine Persönlichkeit mit Tiefe, Würde und viel Gefühl. In „Ich bin, was ich bin“ legt Sarich all das offen: Stolz, Verletzlichkeit, Selbstbehauptung. Es ist ein stiller Triumph – und ein musikalischer Gänsehautmoment, wie man ihn im Musiktheater selten erlebt.

Thorsten Tinney als Georges überzeugt mit charismatischer Zurückhaltung. Er hat vielleicht nicht die stärksten Nummern des Abends, gleicht das aber mit charmantem Spiel und feinfühliger Präsenz aus. Ihre Bühnenbeziehung wirkt authentisch, getragen von gegenseitigem Respekt und echtem Gefühl – eine Liebesgeschichte, die nie in Kitsch abrutscht.

Für die meisten Lacher sorgt Jurriaan Bles als Jacob, der überambitionierte Butler und selbsternannte Zofe, der jede Szene mit seiner Energie an sich reißt – selbst wenn er nur als Stehlampe (!) auf der Bühne steht. Eine komödiantische Glanzleistung mit perfektem Timing.

Die Cagelles, das funkelnde Showensemble des Nachtclubs, tanzen, singen und bezaubern in fantasievollen Kostümen von Judith Peter. Sie sind das schillernde Rückgrat der Show – und gleichzeitig Ausdruck queerer Lebensfreude und Selbstermächtigung. Oliver Liebl gibt einen anrührenden Jean-Michel, Juliette Khalil überzeugt als Anne, und Robert Meyer sorgt mit einem besonderen Auftritt im Finale für ein weiteres Highlight. Sigrid Hauser bringt als Mutter Dindon Witz und ironisches Understatement ins Spiel.

Melissa Kings Regie verwebt all diese Elemente mit großer Leichtigkeit. Ihr gelingt der Spagat zwischen Klamauk und Klarheit, zwischen Varieté und Gefühl. Das Bühnenbild von Stephan Prattes ist wandelbar, verspielt, dabei nie überladen. In einer Szene tanzen mehrere Ruth Bader Ginsburgs über die Bühne – absurd, gewiss, aber auf eine herrlich originelle Weise. Überhaupt wirkt der ganze Abend wie ein liebevoll geschmücktes Überraschungspaket: mal glänzend, mal grell, mal zärtlich – aber immer mit Herz.

Und das ist vielleicht das Schönste an dieser Inszenierung: Sie fühlt sich an wie eine lange Umarmung. Wie ein Abend mit Freunden, bei dem man lacht, weint, feiert – und am Ende mit einem warmen Gefühl im Bauch nach Hause geht.

Wenn zum Schluss „Die beste Zeit ist jetzt“ erklingt, möchte man diesen Moment festhalten. Denn in einer Welt, die oft zu laut, zu hart, zu ernst ist, erinnert La Cage aux Folles daran, dass es sich lohnt, für die eigene Wahrheit einzustehen – mit Stolz, mit Liebe und mit ein bisschen Glitzer.

Review: PUTTING IT TOGETHER am Theater Regensburg

von Marcel Eckerlein-Konrath

Ein gewaltiges Bühnenbild mit schwebenden Kulissen, ein riesiges Ensemble oder eine dramatisch aufgebaute Handlung? All das gibt es bei Putting It Together nicht – und genau das ist einer der großen Stärken dieses Abends. Denn im Zentrum steht ein Name, der in der amerikanischen Musiktheaterlandschaft eine Ausnahmeerscheinung ist: Stephen Sondheim. Kaum ein anderer hat das Genre so klug, so komplex, so vielschichtig geprägt. Das Theater Regensburg widmet ihm nun eine Revue – und trifft damit genau ins Schwarze.

Ganze 30 Songs aus seinem reichen Schaffen werden in dieser Inszenierung von Intendant und Operndirektor Sebastian Ritschel präsentiert – eine Auswahl, die klug zusammengestellt ist und einen weiten Bogen über Sondheims Werk spannt: von Sweeney Todd über A Little Night Music und Company bis hin zu den unterschätzten Assassins und Merrily We Roll Along. Dass das Theater sich nicht für ein zugkräftiges Broadway-Musical mit Wiedererkennungswert wie My Fair Lady oder Evita entscheidet, sondern stattdessen diese anspruchsvolle Revue als deutschsprachige Erstaufführung wagt, ist mutig – und unbedingt lobenswert.

Denn: Die Songs dürften vielen Zuschauerinnen und Zuschauern zunächst kaum bekannt sein. Umso schöner ist es, dass sie an diesem Abend mit so viel Liebe, Respekt und Hingabe präsentiert werden, dass man dem ein oder anderen wohl mit Fug und Recht einen neu gewonnenen Sondheim-Fan-Status unterstellen darf.

Ein zentraler Verdienst dieses gelungenen Abends liegt bei Christian Alexander Müller, der die deutschen Übersetzungen der Songs verfasst hat. Und was für welche! Die Texte fügen sich überraschend flüssig und elegant in die komplexe Musikstruktur ein – meist ohne dass der Inhalt verwässert oder die Wirkung verloren geht. „Do I Hear a Waltz?“ wird zu „Ist das unser Tanz?“, „Marry Me A Little“ zu „Leb an meiner Seite“, „Being Alive“ zu „Heute und hier“ – und all das funktioniert erstaunlich gut. Das ist keine Selbstverständlichkeit, sondern eine echte Meisterleistung.

Die Rahmenhandlung ist denkbar schlicht: Eine Cocktailparty, zwei Paare (eines älter, eines jünger) und ein Erzähler, der durch den Abend führt. Das Konzept stammt von Sondheim selbst und Julia McKenzie – und dient vor allem einem Zweck: den Songs genügend Raum zu geben. Die Szenen sind locker miteinander verbunden, ein roter Faden blitzt hier und da auf, aber das große Ganze ergibt sich letztlich aus den Themen der Musik – Liebe, Verlust, Beziehungen, Lebensentscheidungen.

Sebastian Ritschels Inszenierung bleibt bewusst zurückhaltend, fast minimalistisch – und lässt der Musik den Vortritt. Die Bühne zeigt eine große Treppe, die den Blick auf fünf leuchtende Lettern freigibt: PARTY. Je nach Stimmung des Songs wechseln sie die Farben. Eine Drehbühne sorgt für Bewegung, öffnet zwischendurch die Sicht auf das exzellent aufspielende achtköpfige Orchester unter der Leitung von Alistair Lilley. Auch Licht und Ausstattung stammen von Ritschel selbst – funktional, klar, stilvoll.

Musikalisch prallen in der Revue oft bewusst Kontraste aufeinander. Satirische Stücke treffen auf Balladen, Leichtigkeit auf Tiefe. Gerade das macht die Vielschichtigkeit von Sondheims Arbeit sichtbar – diese Mischung aus Intellekt, Ironie und Emotionalität, die ihn so unverwechselbar macht.

Das Ensemble besteht aus fünf Darsteller:innen – mit sehr unterschiedlichen Ergebnissen:

Franziska Becker ist zweifellos die große Entdeckung des Abends. Ob in der zynischen Abrechnung „Damen von Welt“ („The Ladies Who Lunch“) oder im atemberaubend schnellen „Heiraten werde ich heut nicht“ („Not Getting Married Today“) – sie zeigt, wie man Musical nicht nur singen, sondern erzählen und mit Inhalt füllen kann. Ihre Bühnenpräsenz, ihre stimmliche Kontrolle und ihr komödiantisches Timing sind beeindruckend. Ihre Performance ist eine kleine Masterclass darin, wie man mit Text, Musik und Spiel eine Einheit bildet. Jede Silbe sitzt, jeder Blick erzählt mit.

Bruno Grassini bleibt dagegen etwas blass. Seine Textverständlichkeit ist – gerade zu Beginn – eingeschränkt, was den Einstieg erschwert. Auch fehlt ihm eine prägnante Szene, in der er seine Fähigkeiten voll ausspielen könnte. Im Vergleich zu Becker wirkt er leider oft zurückhaltend und wenig präsent.

Alejandro Nicolás Firlei Fernández zeigt zwar technische Präzision im Gesang und punktet durch tänzerisches Können (inklusive Stepp-Einlage), doch fehlt es seiner Interpretation an emotionaler Tiefe. Sondheims Lieder leben vom inneren Konflikt, vom Nuancenreichtum – das bleibt bei ihm etwas auf der Strecke. Besonders „Unworthy of Your Love“ („All deine Liebe“) verliert dadurch an Wirkung und driftet stellenweise ins Seichte ab.

Fabiana Locke überzeugt deutlich mehr. Sie bringt sowohl stimmlich als auch tänzerisch eine sichere Performance auf die Bühne. Besonders in Songs wie „Lovely“ („Lieblich“) und „More“ zeigt sie Spielfreude und Wandlungsfähigkeit – ein Highlight ihrer Darstellung ist „Sooner or Later“ („Heut oder Morgen“) aus dem Film Dick Tracy, das sie mit verführerischer Lässigkeit und starker Bühnenpräsenz interpretiert.

Felix Rabas, der als Conférencier das Publikum durch den Abend führt, zeigt in seinem professionellen Bühnendebüt eine solide Leistung. Seine Stärken liegen eher im tänzerischen Bereich, gesanglich fehlt es noch etwas an Ausdruckskraft. Doch seine sympathische Ausstrahlung trägt durch den Abend und lässt auf zukünftige Rollen gespannt sein.

Regisseur Ritschel selbst bringt es im Programmheft auf den Punkt: „Sich mit einem Sondheim-Stück zu beschäftigen, ist wie ein Geschenk – alles ist durchdacht und konsequent.“ Das merkt man dieser Produktion an. Putting It Together ist kein lauter Abend, keine Nummernrevue im klassischen Sinn. Es ist ein klug gebautes, musikalisch anspruchsvolles Mosaik – und eine eindringliche Hommage an einen der ganz Großen des Musiktheaters.

Bleibt zu hoffen, dass weitere deutschsprachige Bühnen diesem Beispiel folgen. Denn wer braucht schon schillernde Effekte, wenn er stattdessen Sondheim haben kann?

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